Fallkraut
ich jetzt, und noch immer musste ich die Hand aufhalten.
Karel indessen drängte, schmeichelte, forderte, flehte, bettelte in seinen Briefen. Als ob ich etwas für ihn hätte regeln können, zurechtbiegen, was er falsch gemacht hatte.
Er war doch der Regler gewesen, der mit schwarzem Kaffee und Brotmarken schacherte? Er hatte doch selbst die Initiative ergriffen und sich von diesen Dummköpfen einverleiben lassen, die er seine Kameraden nannte und die von der Niederländischen Legion tönten? âºHouzeeâ¹ * und âºTod den Feinden unseres Idealismusâ¹ und âºAuf nach Osten, um für den Führer zu fallenâ¹. Und solcher Schwachsinn.
Karel hatte mich doch nie etwas regeln lassen?
Als ob ich gewagt hätte, mich noch im Rathaus blicken zu lassen. Da saÃen Leute, die ich nicht kannte, und das eine Mal, als ich meinen Schmuck, der nach der Befreiung beschlagnahmt worden war, abholte â was hatten die Erbstücke von Mama eigentlich damit zu tun? â, sahen sie mich an, als würden sie sich eine verdorbene Wurst in den Mund stecken.
»Ich leide unter Durchfall und beschleunigtem Puls«, schrieb Karel 1946. »Manchmal über 120.«
Woher wusste er das? Wer führte Buch darüber? Wenn es dort einen Doktor gab, konnte es im Lager doch nicht so schlimm sein. Oder?
»Der Durchfall hält an«, schrieb Karel später. »Meine Knöchel sind geschwollen vom Hungerödem, und wenn ich mit den Fingern in meine Wangen drücke, gehen die Dellen nur sehr langsam zurück.«
Guckte er sich die ganze Zeit im Spiegel an oder was? Hatte er dafür Zeit? Ich stand selbst vor dem groÃen Spiegel im Schlafzimmer und fühlte an meinem Gesicht. Zum ersten Mal in meinem Leben war der Babyspeck verschwunden, und auch meine Hüften wölbten sich nicht mehr unter dem Rock. Wenn die Dinge sich nicht rasch zum Besseren wenden würden, würde ich bald wie Sigrid herumlaufen.
»Ansonsten sehe ich normal aus«, schrieb er.
Na, schönen Dank auch. Prima. Fein.
Ich zerknüllte den Brief und warf ihn in den Ofen.
Dann begann die Litanei über Het Parool , oder wie die Zeitung auch heiÃen mochte. Immer wieder die gleiche Leier. Parool , Parool , er habe etwas in Het Parool Âgelesen. Dass es Häftlinge gebe, die begnadigt würden, die vorzeitig entlassen würden, weil ihre Vergehen zu klein gewesen seien oder ihre Gesundheit inzwischen zu schwach sei.
»Ich lese diese Parool nicht«, murmelte ich den Tauben zu, die mit aufgeplusterten Federn gegen die Kälte auf dem Balkon saÃen. »Lese überhaupt keine Zeitung. Dafür hab ich viel zu viel zu tun. Ich kann mein Geld für etwas anderes gebrauchen. Was, ihr?« Und die Tauben zwinkerten, oder zumindest hatte ich den Eindruck.
»Bisher bin ich davongekommen«, schrieb Karel. »Aber das ist ein Gotteswunder. Ich bin am Ende meiner Kräfte, und im Lager herrscht Typhus. Du könntest es also auf meine Gesundheit schieben. Ich habe immer noch Durchfall und versuche, mir die Hände vor jeder Mahlzeit zu desinfizieren, aber das ist alles, was ich tun kann. Die ScheiÃekübel müssen doch geschleppt und geleert werden. Links und rechts werden die Menschen krank, und der Lagerarzt kann nichts machen.«
»Ich auch nicht, ich auch nicht«, sagte ich zu den leeren Brettern meines Vorratsschranks.
Kurz vor Weihnachten jenes Jahres trafen zwei Briefe ein. Der eine war in sachlichem Ton gehalten: Es sei kalt in Ommen und grau. Der zweite war am späten Nachmittag geschrieben, der Rotz tropfte buchstäblich vom Papier.
»Liebe Frau«, flehte Karel. »Kannst Du bitte irgendetwas deichseln? Dass ich nach Hause komme, notfalls unter Hausarrest? Du hast keine Vorstellung, wie sehr ich Dich und Otto vermisse. Ich werde Dir ewig dankbar sein.«
Das Wort »ewig« hatte Karel dreimal unterstrichen.
Ewig?, dachte ich. Vor zwei Jahren klang das noch ganz anders. Da hast du mich überhaupt nicht beachtet, auÃer wenn deine Socken gewaschen werden mussten. Wenn Karel mir damals nur ein klein wenig die Hand gereicht hätte, dann hätte ich ihm verzeihen können. Wie Sigrid immer sagt: Verzeihen ist auch eine Option.
»Meine Darmschwäche führt zu einer ständigen und hoffnungslosen Verschmutzung meiner Unterwäsche. Der Durchfall höhlt mich aus. Nach meiner Heimkehr will ich so schnell wie möglich bei einem Nervenarzt in
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