Fallkraut
mir ein Bier und springe rasch hin. Ich fühle mich leicht. Ich habe Menschen in Holland, die mir lieb und teuer sind und denen ich wirklich etwas bedeute.
Bei der Rückkehr steht mein Bier bereit, und ein älteres Ehepaar hat am Tisch neben mir Platz genommen. Ich setze meine Lippen in die weiÃe Schaumkrone. Gott sei Dank ist von Sigrid weit und breit noch nichts zu sehen. Einen Moment Ruhe. Mir ist, als ob ich seit gestern früh, als ich in Delden in den Zug gestiegen bin, auf Zehenspitzen laufe. Sigrids Augen, die so wenig lachen, und ihr Mund, der gerade alles so toll findet. Und diese Hetzerei!
Durch die offene Tür des Cafés treiben Musikfetzen heraus. Mein Lieblingssänger, Roy Black, ist in der Hitparade.
Roy mit der schwarzen Mähne und der Spalte im Kinn, ein Kinn, das ich bei jedem Mann schmutzig finden würde, weil es mich an einen Popo erinnert, aber nicht bei Roy. Roy, der genauso schöne Augen hat wie Alain Delon. Roy, der so schön über Carina singt.
»Ich denke zurück an das Jahr
Als ich eben 17 war
Kam ein Zirkus in unsere Stadt
Und abends im Zelt sah ich sie
Die mein Herz bis heut nie vergessen hat
Vergessen hat
Das Mädchen Carina â¦Â«
»Können Sie die Musik ein bisschen lauter machen?«, sage ich, als die Kellnerin die Bestellung des Ehepaars neben mir bringt. Und während die Stimme des Sängers mich aufwühlt, frage ich mich, ob ich für Karel jemals eine Carina gewesen bin. Ist Karel jemals so verrückt nach mir gewesen, dass ich ihm keine Sekunde aus dem Sinn ging? Dass drei, vier Briefe am Tag geschickt und auch erwidert werden mussten?
In Ommen schrieb er, ja.
In der ersten Antwort an Karel bat ich ihn, keinen Absender auf dem Umschlag zu vermelden. Ich schämte mich zu Tode wegen der ganzen Situation. Der Postbote und die Sortierer auf dem Postamt brauchten nicht zu wissen, von wem die Briefe kamen und woher. Sonst würden sie so einen Brief noch absichtlich durch einen Hundehaufen ziehen.
Karel durfte einmal in der Woche einen Brief schreiben, am Sonntag, aber oft schrieb er drei, und keiner ging je verloren, denn er nummerierte sie. Am Anfang war ich erstaunt, all diese Briefe, als ob Karel nicht unter strengem Regime Zwangsarbeit verrichtete, sondern irgendwo Urlaub machte und sonntags ruhig an einem Terrassentisch saà und schrieb. Das ärgerte mich. Was gibt es denn jetzt schon wieder zu jammern, dachte ich, wenn ich den Postboten über den Kiesweg knirschen hörte und die Post auf die FuÃmatte plumpste.
Einmal im Monat schrieb ich zurück. Sonntags, wenn alle Läden in der Stadt zu waren, es in den Gärten der Nachbarn von Verwandten wimmelte und die Sekunden dahinschlichen. Ich besuchte ihn nicht in Ommen. Da hätte ich mit dem Zug fahren müssen. Dreimal umsteigen. Fahrkarte kaufen. Wer sollte das bezahlen? Und wozu? Um kurz mal durch die Gitterstäbe eines Zaunes zu winken?
Ich konnte es mir nicht leisten. Nicht in einer Zeit, in der Karel kein Gehalt mehr bekam und ich den Lebensunterhalt für Otto und mich zusammenkratzen musste. Ãberall zeigte man mir die kalte Schulter. Bei Groenheim, dem Fleischer, dem Milchmann, dem Gemüsehändler, und, um Brot zu holen radelte ich bis nach Goor. Nichts ging mehr auf Pump bei mir. Ehemalige Kollegen von Karel aus dem Rathaus kehrten mir auf der StraÃe den Rücken zu. Ich hatte nie jemandem etwas zuleide getan, und trotzdem fand ich schreckliche Briefe auf der FuÃmatte: »Du solltest Fenster und Türen lieber schlieÃen, aber wir werden Dich zu finden wissen, und dann schneiden wir Dir die Kehle durch und stechen Deinem Sohn ein Messer zwischen die Rippen.« Oder: »Gashähne auf: Hier wohnt eine Moffenhure.« Als Karels Fall vor dem Gericht in Almelo verhandelt wurde, wollte niemand von den Zeugen, die zusammengetrommelt worden waren, etwas Nettes sagen. Dabei hatte Karel doch auch gute Dinge getan, vor Razzien gewarnt zum Beispiel.
Die Höhle von Ali Baba war geschlossen, und wie sehr ich auch wummerte, welche Beschwörungen ich auch über der Bügelwäsche aussprach, alle Schalter waren zu, und alle Gesichter strahlten Hass und Abscheu aus.
AuÃer Sigrid. Sigrid gab mir jede Woche Geld für den Haushalt. In einem Umschlag. Manchmal fünf, manchmal zehn Gulden. Sigrid schenkte mir etwas, und ich war dankbar. So dankbar, dass ich jedes Mal heulen musste über so einen Umschlag. Wie alt war
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