Fallkraut
sage ich, »nichts tut mir leid. Wie kommen Sie darauf? Sind Sie der Küster?«
»Das ist unmöglich.« Der Mann ignoriert meine Frage. Langsam gleiten seine Augen von meinem Scheitel bis zu meiner Sohle, als ob ich für einen Bikiniwettbewerb posieren würde und er ein Mitglied der Jury wäre.
»Es gibt immer etwas, das einem leid tut, in dem Alter, das Sie und ich haben. Nehmen Sie mich zum Beispiel: Warum musste ich unbedingt betrunken ins Auto steigen? Um zu zeigen, was ich auf dem Kasten habe? Und das ist noch nicht einmal das Schlimmste.«
Der Mann klappert mit seinem Schnürbeutel. Ich höre Münzen klingeln.
»Ich habe Sie vorhin beobachtet. Sie haben mich nicht bemerkt, was? Sie haben nicht gesehen, dass ich hinter dem Altar mit den Blumen beschäftigt war. Ich habe gewinkt, aber Sie haben stocksteif dagestanden. Breitbeinig und die Strickjacke um sich geklammert, als stünden Sie an Deck eines Schiffes in schwerem Wetter statt auf unserem KirchenfuÃboden, der hier schon seit fünf Jahrhunderten unverrückbar liegt und sogar den Bombenangriff der Engländer ohne Kratzer überstanden hat.«
Der Mann schwenkt den Beutel vor meiner Nase. »Für jeden Gedanken einen Pfennig.«
Ich kralle mich an die Henkel meiner Tasche. Fieberhaft suche ich nach einer Antwort, doch es kommt nichts. Wie ich meinen Kopf auch durchwühle, ich kann nichts finden.
»Ich weià nicht, was Sie meinen«, stammele ich. »Ich würde Ihnen gern helfen. Aber es gibt nichts, was mir leid tut. Ich bin eine einfache Geigerin. Davon habe ich schon als Kind geträumt. Doch jetzt muss ich gehen. Meine Schwester wartet auf mich, und wenn ich mich verspäte, macht sie sich Sorgen. Meine Schwester macht sich immer gleich die gröÃten Sorgen um nichts.«
Ich drehe mich um und laufe weg. Meine Absätze klappern über den steinernen KirchenfuÃboden. »Vielen Dank!«, rufe ich in die Leere hinter mir.
Dann höre ich den Mann wiehern: »Dass ich nicht lache! âºIch bin nur eine Geigerinâ¹.«
Ich beschleunige meinen Schritt. Was will dieser widerliche Kerl von mir? Mit meinen vollen sechzig Kilo stoÃe ich die Eichenholztür der Kirche auf. Die Sonne umfängt mich, hebt mich hoch. Sie strahlt mir so grell in die Augen, dass ich, von dem Licht geblendet, nach meiner neuen Sonnenbrille taste, die ich mir in Enschede im Tabakladen gekauft habe.
6 Valentine
»Mein groÃer Liebling«, schreibe ich an Otto. »Wir sind wohlbehalten in Lorch angekommen. Das Hotel ist gut und das Wetter auch. Sigrid und ich haben es gut. Das Essen ist gut. Man kann hier Schnitzel mit Spaghetti und Pommes essen für nicht einmal sechs Mark. Dann kriegt man noch ein Glas Wein gratis dazu und hinterher Kaffee. GrüÃt Du zu Hause? Sag, dass die Kleinen immer noch etwas bei mir guthaben zu ihrem Geburtstag. Küsse, Mutti.«
Auf der Vorderseite der Karte â eine Stadtansicht von Lorch â kreuze ich die Stelle an, wo unser Hotel ungefähr steht. Ich lese die Zeilen, die ich geschrieben habe, noch einmal. Soll ich Ramona auch erwähnen? Sie hat irgendwann im April Geburtstag gehabt. Ich habe keine Einladung bekommen, keinen Anruf, nichts fiel auf die FuÃmatte. Wer nennt sein Kind schon Ramona? Das tut nur fahrendes Volk. Dass Otto ausgerechnet mit so einer Frau nach Hause gekommen ist.
Ich nehme die zweite Karte. Die ist für Schwager Sjors. Für ihn habe ich einen Turm ausgewählt, der schief an einem Weinberg lehnt. Um den Turm winden sich tiefdunkle Rosensträucher. Am Fuà steht ein Esel mit Âeinem lustigen Strohhut auf dem Kopf. Ich bin verrückt nach Eseln, auÃer wenn sie iah schreien.
»Lieber Schwager Sjors«, schreibe ich. »Hast Du das Reich für Dich alleine? Klappt es mit dem Kochen, dem Abwasch und dem Einkaufen? Ist ein ziemlich harter Brocken, nicht wahr? Wie ist das Wetter bei Dir? Kannst Du mit dem Motorrad losziehen? Wir haben es schön hier. Das Hotel ist ein bisschen enttäuschend, aber die Umgebung ist genau wie auf den Abbildungen: Weinberge, Fachwerkhäuser, Burgen (siehe vorn). Mit Sigrid ist es sehr gesellig.« Ich sauge am Kugelschreiber. Dann schreibe ich: »Ich hoffe, Dich recht bald in Holland wiederzusehen. Ganz lieben GruÃ, Deine Valentine.«
Ich klebe die Briefmarken auf und schaue nach einem Briefkasten. In der Ecke des Platzes entdecke ich einen. Ich bestelle
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