Fallkraut
und halte ihn der Frau unters Gesicht.
»Nein«, stöhnt sie, »nicht die Orchidee. Die habe ich gerade zum Blühen gebracht. Holen Sie lieber den Aporocactus.«
»Den Aporo-was?«
»Den A-po-ro-cac-tus«, sagt die Frau. Das Husten geht wieder los.
An einer schattigen Stelle des Flurs sehe ich einen Kaktus, der einem Büschel groà geratener Schwänze ähnelt, nur mit Stacheln. Den werde ich bestimmt nicht anfassen. Diese Nadeln kriege ich mein Lebtag nicht mehr aus meinen Händen, und meine Hände sind mein ganzes Kapital. Kann ich mir als Geigerin nicht erlauben.
Mit dem Fuà schiebe ich den Topf mit dem Kaktus vorsichtig unter das Gesicht der Frau. »Na los«, sage ich.
Die Frau würgt erneut. Sie übergibt sich, keucht, hustet, die Hände in der Seite, kommt dann wieder hoch. Ihr Gesicht ist verzerrt.
»Wirklich kein Wasser, oder vielleicht Milch?«
»Nein, es ist gut so.«
Ich schiebe den Kaktus wieder an seinen Platz. Der Schleim zieht Fäden an den Stacheln.
Die Frau gestikuliert: »Lassen Sie ihn nur stehen. Ich mache mit dem Pflanzensprüher gleich alles sauber.« Sie räuspert sich. »Entschuldigen Sie.«
»Natürlich«, sage ich. »Das kann jedem passieren.«
»Gut, wo waren wir stehengeblieben?«, sagt die Frau und wischt sich den Mund mit dem Ãrmel ihrer Bluse ab.
»Der Direktor«, sage ich. »Ein ehemaliger Dozent von hier, ein Geigenbauer, hat mich hergeschickt. Er hat es mir ausdrücklich empfohlen. Nur nach Mittenwald gehen, zum Direktor.«
»Zum Herrn Direktor«, sagt die Frau, »ja, ja, das wollen sie alle.« Ihr Gesicht ist noch immer störrisch, doch ihre Stimme klingt anders als vorhin.
»Ich weiÃ, dass Ferien sind«, sage ich. »Aber nur jetzt habe ich frei kriegen können. Bitte, ich bin von so weit her gekommen.«
»Weit sagt uns hier gar nichts.«
Ich ergreife ihre Hand und flüstere: »Bit-te.«
Die Frau verstummt. »Er ist da«, nickt sie schlieÃlich. »Der Herr Direktor wollte in den Urlaub fahren, aber eines seiner Kinder ist krank geworden.« Aus ihrer Rocktasche holt sie ein Fläschchen Jägermeister und nimmt einen Zug. Sie gurgelt, bevor sie schluckt.
»Ach«, sage ich, »nichts Ernstes, hoffentlich?«
»Es fängt wieder an zu regnen.« Die Frau schaut an mir vorbei nach drauÃen, wo der Himmel pechschwarz geworden ist. Sie zieht die Tür zu, dreht den Verschluss auf die Jägermeister-Flasche und streckt gebieterisch die Hand aus. »Kommen Sie mit. Ich werde sehen, was ich tun kann. Wir sind hier schlieÃlich keine Unmenschen.«
Während es drauÃen anfängt zu schütten, nimmt die Frau mich mit in das Gebäude. Am Ende des Flurs gehen wir nach rechts, eine Treppe hinauf, durch einen langen Gang mit Werkstätten auf beiden Seiten und Geigenschablonen an der Decke, noch eine Treppe hinauf, und dann öffnet die Frau die Tür zu einer Kammer, so groà wie ein Schuhkarton. Darin stehen ein Schreibtisch, ein Stuhl dahinter und noch ein Stuhl an der Wand.
»Warten Sie«, sagt die Frau. »Ich werde fragen, ob der Herr Direktor eine Minute Zeit hat.«
Sie verschwindet durch eine andere Tür. Ich höre ÂGemurmel, ein Fensterladen klappert in der Ferne, auf einem Innenhof ruft jemand: »Nein, nein!«, und dann wird es still.
Ich warte eine halbe Stunde. Es ist stickend heià in dem Zimmer. Ich knöpfe meine Regenjacke auf und wedele mir mit der Handtasche Kühlung zu. Ich brauche frische Luft. Dann geht die Tür auf. Ein baumlanger Mann in Lederhosen stiefelt herein. Mit zwei Schritten ist er am Schreibtisch und schiebt sich einen Stuhl heran. Ohne ein Wort zu sagen, ohne Gruà oder so, zieht er eine Schublade auf, holt einen Notizblock heraus und beginnt zu schreiben. Sofort. Mit herausgestreckter Zungenspitze.
Lange Zeit ist nichts anderes zu hören als das Prasseln des Regens auf dem Dach und das Kratzen des Stifts.
Ich kriege noch mehr Beklemmungen in diesem Kabuff durch das Kohlendioxid, das der Direktor produziert. Schweià kribbelt mir im Nacken. Wenn mein Stuhl nur nicht feucht ist, wenn ich nachher aufstehe. Ich muss mich zusammennehmen. Genau wie auf der Bühne. Soll ich als Erste loslegen? Soll ich diesen halben Schritt zum Herrn Direktor jetzt überbrücken? Meine Augen gleiten über die moosgrünen Kniestrümpfe des Direktors,
Weitere Kostenlose Bücher