Fallkraut
Âstechen. Warum nicht? Du willst doch nicht nur die leichten Romanzen von Beethoven, sondern vielleicht irgendwann auch mal die Chaconne von Bach oder eine Caprice von Paganini spielen? Irgendwann willst du diese Musik doch betasten und beschnuppern? Unvollkommen, natürlich. Gekratze, versteht sich. Aber bei jedem Strich hörst du ein Echo aufsteigen, das der Perfektion. Dieses Echo ist der Motor, der dich zu deinem Telos bringt, wie mein alter Geigenlehrer erzählte, zu deinem Ziel.
Das sage ich. So habe ich es gemacht, als ich frisch verheiratet war und im Storkgebäude vorspielte: Als ob ich keine Angst hätte. Und mir nicht fast in die Hosen pinkeln würde aus lauter Nervosität vor diesen Männern â immer nur Männer â mit schwarzen Anzügen und zusammengekniffenen Mündern. Und so mache ich es heute auch noch: Als hätte es nichts Beängstigendes, Âjeden Abend im Scheinwerferlicht, jeden Abend die Furcht, einen Fehler zu machen, jeden Abend das Publikum hautnah.
12 Valentine
Ich fühle an meinem Hinterkopf: ein einziges verfitztes Knäuel. DrauÃen peitscht der Regen an die Fenster. In Bayern ist immer schönes Wetter, behauptet Sigrid. Sie schwatzt ins Blaue hinein. Gestern bin ich auf dem Weg vom Bahnhof Mittenwald zu unserem Hotel klitschnass geworden. Ich werde noch krank. Du wirst sehen.
Heute gehe ich nicht raus. Wie sehr Sigrid auch drängt. Um keinen Preis. Noch hundemüde von dieser Höllenfahrt von Lorch hierher. Miserabel geschlafen. Zucken in den Beinen. Ich bin bestimmt hundertmal aufgestanden, um aufs Klo zu gehen, habe mich zur Badtür getastet und mir den Zeh am Bein eines Tischchens gestoÃen, das im Weg war. Sigrid soll mal schön alleine losziehen. Mittenwald steht schon an die fünfhundert Jahre, auf einen Tag mehr ohne mich kommt es da auch nicht an.
Ich habe die Lampen noch an. Keine Lust, die Gardinen aufzuziehen. Gestern Abend, als ich in Mittenwald aus dem Zug wankte, nach einer Reise, die nicht nur mehr als die acht Stunden gedauert hatte, die im Fahrplan angegeben waren, sondern bei der ich auch noch zweimal fünfundzwanzig Minuten keuchend laufen musste beim Umsteigen in Frankfurt und München, da hing die Bewölkung in Oberammergau so tief, dass nirgends ein Berggipfel zu sehen war.
Auf dem Bahnhof weigerte sich Sigrid, einen Schirm zu kaufen, obwohl der Regen wie ein Vorhang herunterfiel und die Tropfen in den Pfützen auf der StraÃe Blasen warfen. »Wir sind gleich im Hotel«, sagte sie. »Es ist nur ein Katzensprung.«
Da hatte ich erst mal zu schlucken, denn wegen des schlechten Wetters konnte Sigrid nicht richtig auf den Stadtplan schauen, und wir bogen zweimal in eine falsche Gasse ein. Mit den Koffern. Im Regen. Auf spiegelglattem Kopfsteinpflaster.
Meine Haare vertragen keinen Regen. Sie werden fettig davon und verlieren jeglichen Glanz, den ich mit endloser Geduld hineinbürste. Morgen eine Apotheke aufsuchen und eine gute Flasche Shampoo kaufen. Das reiÃt wieder ein Loch in den Beutel.
Ich greife zur Haarbürste.
Eins. Der Fitz gibt nicht nach. Ich zerre kräftiger.
Verdammt, ja. Wie hätte ich das denn mit den Klavierstunden regeln sollen?!
Hatte unser schlauer Hausarzt Fokkemaat irgendeine Vorstellung davon?
Mit so einer Nase etwa? So kaputtgetrunken, dass es mir schwerfiel, mich auf seine Augen zu konzentrieren.
Die Spiegel der Seele nennen die Menschen die Augen.
Nun, die Nase von Doktor Fokkemaat erzählte eine ganz andere Geschichte als seine zwei blauen Augen. Doktor Fokkemaat, mit seiner netten kleinen Bruchbude in einem Dorf in Friesland, dessen Namen ich nicht Âaussprechen konnte und wo es so phantastisch war, ein Wochenende, einen Montag, Dienstag und manchmal auch gleich ein paar Wochen zu verweilen.
Der Bus zum Krankenhaus, Doktor Fokkemaat, wie oft fuhr der in der Stunde, und wann fuhr er zurück?
Hatte er jemals öffentliche Verkehrsmittel benutzt?
Nein? Bestimmt ist er immer nur in das dunkelblaue Arztauto gestiegen und mit lässig aus dem offenen Fenster hängendem Ellenbogen zu all den pikanten Orten kutschiert, von denen Frau Fokkemaat Ringe unter den Augen bekam.
Der Fitz löst sich. Ich zupfe die Haare aus der Bürste und werfe sie in den Papierkorb. Verdammt.
Ich muss den Namen unseres Herrgotts heiligen. Aber wie sehr ich mich auch bemühe, damals, bei Karels Abgang, und auch jetzt, ich sehe ihn nicht, manchmal nicht,
Weitere Kostenlose Bücher