Fallkraut

die nackten, schwieligen Knie und die Krampfadern darüber.
    Endlich setzt der Direktor einen harten Punkt auf das Papier. »So«, sagt er, reißt das Blatt ab, zerknüllt es und schlägt seinen Notizblock zu.
    Ich stehe auf, um meinen Stuhl von der Wand an den Schreibtisch zu rücken, aber der Mann sagt: »Lassen Sie stehen. Sonst muss ich den Stuhl nachher wieder zurückschieben. Erzählen Sie mir lieber, was für einen Rat Sie wollen. Ich habe wenig Zeit.« Er trommelt mit den Fingern auf dem Schreibtisch.
    Â»Ja, ich habe es gehört, eines Ihrer Kinder.«
    Der Mann schweigt.
    Â»Sehr freundlich, dass Sie sich eine Minute für mich Zeit nehmen, Herr Direktor«, sage ich. »Das weiß ich sehr zu schätzen. Ich habe vollstes Verständnis, denn ich bin Solistin und weiß, dass es manchmal auf den Bruchteil einer …«
    Â»Erzählen Sie, weshalb Sie mich während meiner Ferien belästigen«, unterbricht mich der Direktor.
    Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her. »Eine Freundin von mir«, beginne ich, »ist zur Kur hier in Mittenwald und sucht eine gute Adresse, um ihre Geige schätzen zu lassen. Würde der Herr Direktor so freundlich sein, eine Empfehlung zu geben, an wen sie sich am besten wenden kann?«
    Â»Soso.« Der Direktor reibt sich über die Brauen, kneift die Augen zusammen. »Ihre Freundin. Ja, ja«, sagt er mit noch immer geschlossenen Augen. »Warum kommt sie nicht selbst?«
    Â»Sie macht eine Kur«, antworte ich. »Sie muss täglich Wechselbäder nehmen. Jede Stunde ist was los. Sie absolviert ein intensives Programm. Ihre Beine«, ich klopfe irgendwo in die Gegend meiner Hüfte, »Blutgerinnsel. Die können sich urplötzlich lösen. Und wenn sie im Kopf oder im Herzen landen, dann es aus mit ihr. Und das wollen wir doch nicht. Oder?«
    Kein Muskel im Gesicht des Direktors regt sich. »Um was für eine Geige handelt es sich?«, fragt er.
    Â»Das ist nun gerade das Besondere. Meine Freundin meint, dass es eine ganz außergewöhnliche Geige ist. Eine alte.«
    Â»Das sagen sie alle.« Der Direktor öffnet die Augen. Er schaut mich missbilligend an. »Ich kann die Isar zuschütten mit Geigen, die zur Expertise hierher gebracht worden sind, alle waren etwas Besonderes und ganz außergewöhnlich und sehr alt, wie Sie sagen. Und es war alles nur Wrackholz.«
    Â»Warm ist es hier«, bemerke ich. »Finden Sie nicht, Herr Direktor? Ach nein, wohl nicht.«
    Â»Gut«, unterbricht mich der Direktor. »Ich habe, wie gesagt, wenig Zeit.« Er schlägt seinen Notizblock wieder auf, zögert einen Moment und schreibt dann einen Namen auf. »Versuchen Sie es mal bei diesem Kerl«, sagt er. »Er ist nicht der Beste, aber den Besten kriegen Sie nicht mehr, der hat Mittenwald schon vor vielen Jahren geteert und gefedert verlassen.«
    Moritz von Gönnen lautet der Name des Gutachters.
    Â»Versuchen Sie Ihr Glück bei ihm«, sagt der Direktor.
    Â»Glück?«, sage ich, »das ist es nicht, was meine Freundin sucht. Sie will Fakten sehen. Die Wahrheit. Und wo kann sie die besser finden als hier, wo das Herz der ­Geigenbauindustrie schlägt, wo so eine ehrwürdige Tradition von …«
    Der Direktor steht abrupt auf. »Ich habe noch einen anderen Termin«, sagt er. »Wenn Sie also …«
    Â»Ja, ja, Ihr krankes Kind.« Ich erhebe mich hastig. »Ich halte Sie nicht länger auf, Herr Direktor. Tausend Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben.«
    Der Direktor gibt mir nicht die Hand zum Abschied, sondern dreht sich um und läuft aus dem Zimmer. »Catherine fühlt sich wieder besser«, sagt er über die Schulter. »Sie begleitet Sie hinaus.«
    Auf Nimmerwiedersehen, Herr Direktor, mit deiner albernen Hose und deinen nackten Beinen. Das sage ich laut, als ich wieder auf der Straße stehe. Er kann mich mal. Valentine kann mich mal. Alle können mich mal. Ich habe eine gute Adresse in der Hand. Herr von Gönnen. Ha, ha. Herrlich, dieser Regen auf meiner Stirn, meinem Hals und meinem feuchten Nacken.
    Vielleicht scheiterst du. Das sage ich zu Schülern, die mit der Musik weitermachen wollen. Die Kinder kommen aus Haaksbergen, Goor, Enschede und manchmal sogar aus Zwolle. Triff eine Entscheidung und fass einen Entschluss, sage ich. Spiel drei, vier Stunden am Tag, ja, bis deine Handgelenke brennen und deine Schultern