Fallkraut
jetzt nicht, ich kann das gerade alles nicht.
Ãber meinem Hotelbett â Sigrid schläft auf der Bettcouch im Wohnzimmer â hängt ein Gemälde vom Karwendelmassiv in Tannenbaumgrün mit schneeweiÃen Stellen dazwischen. Der Himmel auf dem Gemälde ist blauviolett, und auf einem vorragenden silbergrauen Felsen steht ein Steinbock bereit zum Sprung in die Tiefe. Aber die echten Berge, nach denen ich mich im Zug von München nach Mittenwald mit jeder Faser meiner Därme, meiner Leber und beider Nieren gesehnt habe, verstecken sich hinter grauen Nebelschwaden. Das bleibt bestimmt so in den Tagen, die wir hier sind.
Zwei. Ich ziehe die Bürste nach unten, mit zusammengebissenen Zähnen.
Die Bürste fährt mir aus der Hand und fällt zwischen die Cremetöpfchen, Augenbrauenstifte, Pinzetten, Wimperntusche und Lippenstifte, die vor mir auf dem Frisiertisch stehen.
Herr, ich weiÃ, meine Worte sind schwarz. Vergib mir. Hab Mitleid mit der Sünderin, die ich nie habe werden wollen. Wirklich. Ich bin das Licht. Ich war das Flämmchen der Kerze, die glühende Kohle in einem verlöschenden Feuer, der Sonnenschein, der Papas Herz erwärmte. Das waren die Namen, die Papa mir gab, wenn er nach Hause kam und mich hochhob. Er lachte und schwang mich bis über seinen Kopf in die Luft, obwohl ich schon zehn war und voll in der »Entwicklung«, wie Mama es nannte. Mama schrie, wenn Papa mich hochhob. Sie rief, dass ich ihm noch die Arme brechen würde mit meinem Gewicht. Warum hielt Mama nicht ihren Mund?
Ich war kein Zehntonner. Alles Tinnef, was Mama sagte.
Es war: Papa und ich. Ich war Papas kleine Königin, sein Sonnenschein. So gern wäre ich das geblieben. Wenn Sigrid nur nicht gewesen wäre.
Drei. Die dicken Knollen sind von heute Nacht, von der Herumwälzerei im Bett. Seit ich mir die Haare färbe â ich gehe nicht mit so einem widerlichen grauen Kopf auf die StraÃe â, sind sie trocken und fusselig. Ich habe noch keine Creme gefunden, die hilft.
Natürlich tut es weh, sagte Mama vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer. So wie du nachts mit dem Kopf in deinem Kissen wühlst. Ein Schwein an einem vollen Trog ist nichts dagegen.
Ich konnte es mir nicht leisten, wegen Besuchsstunden im Krankenhaus und Busfahrzeiten meine Arbeit aufzugeben. Sollte ich mir vielleicht Brot für unterwegs mitnehmen und die warme Mahlzeit auslassen? Wo um alles in der Welt sollte ich die Zeit hernehmen, um Karel sowohl vormittags als auch nachmittags zu besuchen?
Und Sie, Doktor Fokkemaat, lagen mir hinter Ihrem Schreibtisch immerzu in den Ohren. Dass Karels Zustand kritisch sei.
Kritisch, kritisch, was war schon kritisch? In der Zeitung standen Kritiken, über Politik, Theater und Musik, und diesen Unsinn las ich auch nicht. Die Herren, die die Feder schwangen, hörten nicht mal, ob ein Ton falsch oder sauber war. Wie sollte ich dann glauben, was sie schrieben?
Was ich wissen wollte, war, wie viele Stunden mich dieser Spaà mit Karel im Krankenhaus kosten würde. Das Klavier brachte das einzige Geld in die Haushaltskasse, und wenn ich Stunden absagen musste, dann würde Karel das nicht lustig finden. Und wenn Herr van Snitten etwas nicht lustig fand, dann gab es in der Noorderhagen nicht viel zu lachen. Dann blieben Wohn- und Esszimmer leer, denn dann aà Herr van Snitten lieber im Schuppen zwischen seinen Nägeln und Muttern.
Der Doktor lachte.
Ja, er hatte gut lachen. Bei ihm floss immer Geld herein, auch wenn er wochenlang in Friesland untertauchte, während Frau Fokkemaat die Rezepte ausstellte und Patienten abfertigte. Und auÃerdem konnten die meisten Konsultationen sehr gut telefonisch erledigt werden. Das sagten Sie doch, Doktor Fokkemaat, als Karel krank wurde und mit einem bösen Husten in Ihre Praxis kam? Sie konnten ihn nicht richtig abhören, denn Ihre Hände zitterten, und der Geruch des Genevers kam Ihnen fast aus den Ohren. Sie sagten: »Das nächste Mal geht das auch telefonisch.«
Vier. Rechts von meinem Scheitel. Ich ziehe so kräftig, dass ich einen Stich im Ellenbogen spüre.
Auf einer der vielen hundert Touren, die Karel mit seinen Bleistiften, seinen Holzkohlestummeln und Zirkelkästen machte â er radelte damit von Bauernhof zu Bauernhof â, regnete es den ganzen Tag, Eistropfen, nasser Schnee, und wenn es gerade einmal trocken war, erhob sich ein schneidender Wind. Es gab zwar keine
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