Fallkraut
gut zuhören, aber du, wann lernst du mal zuzuhören? Ich sage es nicht. Statt dessen sage ich nur: »Pass auf deine Zähne auf, wenn du dieses harte Brot isst. Das rutscht nicht so gut wie die Wurst.«
Als wir unsere Teller geleert haben, verschwindet ÂSigrid im Bad. Ich höre sie kramen und dann lange nichts. Sie sitzt bestimmt auf dem Klo. Oder sie putzt ihr Gebiss. Fleischfasern bleiben leicht hängen.
Auch ich habe mir ein Gebiss zugelegt, als sich Sigrid mit fünfzig alles auf einmal hatte ziehen lassen. »Es tut nicht weh, Tine«, ermutigte sie mich, »deine Zähne sind für immer weiÃ, und du bist von dem halbjährlichen Ãrger beim Zahnarzt erlöst.«
Natürlich zögerte ich, denn ich habe eine Heidenangst vorm Zahnarzt. Alles auf einmal raus, tut das nicht sehr weh, und betäuben sie auch gut? Wie kann ich so einem Wildfremden vertrauen?
Sigrid sagte, dass es praktisch sei. Ich würde nie mehr Probleme damit haben. Ich rief Otto an, wegen einer zweiten Meinung.
Otto hatte einen stressigen Tag im Krankenhaus gehabt, es hatte Notfälle gegeben und Patienten, die seine Zeit verschwendet hatten. Auf jede Frage, die ich stellte, antwortete er nur »ja, ja«, als hörte er nicht den Unterschied zwischen einer Frage über die Schmerzen in meinem Mund, die mich nachts um den Schlaf brachte, und einer Geschichte über die Nachbarin, die wegen ihres Rheumas kein Buch mehr halten konnte. Für mein Glückskind war das Jacke wie Hose.
»Siehst du fern?«, fragte ich schlieÃlich.
»Neues aus dem Fabelwald.« Leben kam in Ottos Stimme. »Guckst du das nie, Mami? Wir sitzen hier jeden Abend alle zusammen auf dem Sofa. Jeder hat seine Lieblingsfigur. Meine ist Zoef, der Hase, Ramona hat Bor, den Wolf, Elsje ist ganz wild auf Meindert, das Pferd, und Markje auf ⦠äh, auf wen noch mal?«
Es wurde still am anderen Ende der Leitung. Dann sagte Otto: »Du musst auch mal gucken. Es ist sehr lustig.«
»Mach ich«, sagte ich. »Nun, ich will euch nicht länger aufhalten. Tschüss Schatz, tschü-hüss.«
»Ich ruf dich morgen an«, sagte Otto, »oder ansonsten übermorgen.«
Ich legte den Hörer auf und schaltete den Fernseher ein, wo gerade ein sprechendes Stofftier etwas von einem unheimlichen Wald brüllte. Ich schaltete den Fernseher wieder aus. Es spukte in meinem Kopf herum. Wohnzimmer, Sitzzimmer, Esszimmer, Küche, Flur, WC , Diele, Treppe nach oben, vier Schlafzimmer, Bad und darüber noch ein riesiger Dachboden. All diese Meter, die Karel nach unserer Hochzeit hatte bauen lassen und die meine Schritte hallen lieÃen, alle Bewegungen, auch das allerleiseste Geräusch, zu einer Klangmauer verstärkten, nur weil niemand da war, mit dem ich das Geräusch teilen konnte.
Ich lief zu meinem Steinway und blätterte durch die Notenbücher. Ich griff nach einer Klaviersonate von Beethoven, schlug sie auf, besann mich anders. Ich kramte weiter und entschied mich schlieÃlich für ein verträumtes Märchen von Ravel. Ich rückte den Klavierhocker zurecht und setzte mich, die Zehen meines rechten FuÃes balancierten über dem Pedal, meine Hände ruhten auf den Tasten, der Kristall in meinem Ehering funkelte im Licht der Klavierlampe. Ich fing an zu spielen.
Otto rief am nächsten Tag nicht zurück, und am Tag danach auch nicht. Ich machte einen Termin beim Zahnarzt und lieà mir eine Woche später sämtliche Zähne ziehen. Meine Zähne waren von diesem Moment an tatsächlich immer strahlend weiÃ, und ich brauchte nicht mehr alle halbe Jahre zum Zahnarzt. Darin hatte Sigrid recht. Aber Sigrid hatte auch gelogen. Denn es tat weh, entsetzlich weh, nicht nur das Ziehen, sondern auch danach, noch jahrelang.
15 Sigrid
Als ich mein Gebiss ausführlich gereinigt habe, krieche ich wieder ins Bett. Ich fühle mich erleichtert, dass die erste Hürde genommen ist. So grausig war es nicht, Valentine von Krüskes Plänen zu erzählen. Ich starre auf den massiven Kronleuchter an der Decke. Sieben hölzerne Arme mit flackernden Kerzenattrappen werfen eine warme Glut über die Zudecke und meine weiÃen Hände darauf. Ich grinse. Dass ich mich so verrückt gemacht habe vor diesem Gespräch. Dabei versteht Valentine alles. Es ist so schön, wieder einen Gesprächspartner zu haben. So schön, seine Sorgen teilen zu können. So schön,
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