Fallkraut
gekommen?« Ich schlucke den Kloà in meinem Hals hinunter. »Ich will alles hören, dann mache ich inzwischen einen Teller für dich zurecht.«
Es habe mit dem 1. Violinkonzert von Bruch angefangen, berichtet Sigrid, dessen Solopart sie nicht mehr habe spielen dürfen. Obwohl gerade diese Musik ihre Chance sei. Weil es ihre Lieblingsmusik sei. Ein Konzert am Pfingstsonntag. Krüske habe gesagt, dass er an ihren Soloqualitäten zweifle.
»Ich sollte ihm was vortragen«, sagt Sigrid. »Niemand bestimmt, dass ich, Sigrid Raffelsberger, zwischen den Schweinetutti spiele.«
Sie habe seit Jahren nicht mehr zu Hause geübt, aber jetzt schon. Jeden Tag. Nach den Proben. Bis ihre Schultern brannten und Sjors meinte: »Diesen Krach kannst du den Nachbarn nicht länger antun.«
»Ich bin kein grünes Blättchen mehr«, sagt Sigrid. »Ich muss. Es gibt immer mehr Jüngere, gegen die ich im Orchester ankämpfen muss. So viel junges Gemüse, das auf meinen Platz am Pult lauert.«
»Natürlich«, nicke ich. »Je älter man wird, desto mehr Junge sind hinter einem her.«
Eine Woche vor der Generalprobe habe Krüske Sigrid in der Probenpause zu sich gerufen. Er vermisse Souplesse. Sie versuche, Heifetz nachzuahmen, dabei sei Heifetz unübertrefflich. Sie spiele zu sentimental. Sie müsse Bruch transparenter, nicht verschwommen klingen lassen. Die Fenster des Violinkonzerts müssten geputzt sein, es dürften keine Schlieren, keine nebligen Schleier mehr auf dem Glas sein. Ihre romantische Intonation sei viel zu fett, viel zu schwammig alles.
Sigrids Stimme bebt. »Ich habe es nie anders gelernt. Ich weià nicht, wie ich es anders machen soll.«
»Und das hat er dir mal eben in der Pause erzählt, an seinem Pult?«, frage ich. Ich fühle wieder ein Lachkribbeln aufsteigen. Obwohl die Situation überhaupt nicht komisch ist. Schnell öffne ich eine Flasche Bier und schenke es in ein hohes Glas. »Willst du im Bett essen oder kommst du raus?«
»Ich komme an den Tisch«, sagt Sigrid. Sie schiebt ihre blassen FüÃe in ihre grau karierten Pantoffeln.
»Waren die anderen auch dabei? Alle Streicher? Das ganze Orchester?«
Sigrid nickt.
»Was für ein Drecksack.« Ich nehme einen Schluck. Auf einmal fühle ich Wut in mir aufflammen. Was bildet sich dieser Krüske denn ein? Meine Schwester ist eine phantastische, begabte Geigerin. Was fällt ihm ein, eine Raffelsberger â¦
»Ich bekam eine Woche Zeit, um mich zu beweisen.« Sigrid spieÃt eine Wurst auf ihre Gabel und tunkt sie in ein Schälchen mit süÃem Senf. Sie steckt die Wurst zur Hälfte in den Mund und beginnt zu kauen.
»Hier ist ein Teller«, sage ich.
»Ich hätte routiniert gespielt«, erzählt Sigrid. »Das habe er gehört, sagt Krüske. Ich solle mehr üben. Noch mehr.«
»So ein Quatsch! Du spielst routiniert und romantisch.« Ich wische mir den Mund mit meiner Serviette ab. »Bruch muss man gerade romantisch spielen. Dieser Nebel, diese kahle Ebene am Anfang.« Meine Stimme überschlägt sich. So sprach Papa immer über Musik, so, so lächerlich, so gespreizt, so gar nicht, wie ich bin. »Kannst du es mir erklären?«, frage ich. »Was meint dieser Krüske?«
»Er sagt, ich hätte gespielt, als ob ich mich zu Tode langweilen würde.«
»Aber am zweiten Pult ist es noch viel langweiliger!« Ich nehme die Aufschnittplatte und schiebe einen Stapel Wurstscheiben auf meinen Teller. Butter, Brot. Auf gehtâs.
»Wie alt ist dieser Krüske eigentlich?«, frage ich. »Er ist doch erst seit kurzem bei euch Dirigent? Was weià der denn von einem Orchester und wie es da zugeht? Du arbeitest dort schon â wie lange jetzt? Bestimmt dreiÃig, vierzig Jahre.«
Eine Pause entsteht.
»Du musst noch was essen«, sage ich. »Du bist ohnehin schon so mager.«
Sigrid nickt, seufzt und lädt sich drei Viertel der Würstchen auf ihren Teller. Sie belegt zwei Brote mit Rindfleisch und Sauerkraut.
»Gut so, wenigstens hast du Appetit.«
Sigrid legt ihre Hand auf meinen Arm und kneift mich sacht. »Schön, Tine«, sagt sie. »Schön, dass du da bist. Du kannst immer so gut zuhören. Urlaub mit dir. Wenn du wüsstest, wie ich mich darauf gefreut habe.«
Ich verziehe den Mund zu einem Lächeln. Ich denke: Ja, ja, Tine kann ach so
Weitere Kostenlose Bücher