Fallkraut
Sigrids Gesicht erscheint ein roter Fleck. Als wäre sie mit ihrem Gesicht in das Fallkraut gefallen, das überall rund um Sonnenberg blühte. Kopfüber, weil Sigrid immer den Hügel hinunterrennen wollte, aber ihre FüÃe langsamer waren als ihr Körper.
Gemurmel. »Bauch. Tut wieder weh«, verstehe ich.
»Soll ich den Doktor rufen?«, versuche ich noch einmal.
Keine Reaktion.
Ich wende mich wieder meinen Patiencekarten zu. Was für ein Debakel. Die Frau Konzertmeisterin ist nicht mehr. Ob Sjors den Arm um sie gelegt hat? Sie auf dem Sofa an sich gezogen hat? Oder hat er sich einfach sein Motorrad geschnappt? Ich habe jedenfalls eine Partie, auf die ich stolz sein kann. Ich habe noch mit keiner Karte gemogelt, ich warte auf die Pik Sechs, und die habe ich in der Hand. Ich brauche nur geduldig weiter umzudrehen, dann taucht die Sechs von selbst auf.
»Valentine!«, ruft Sigrid. »Es klopft.«
»O natürlich.« Ich träume. Ich stehe auf, um die Tür zu öffnen. Ein Junge in einem blütenweiÃen Anzug mit einem bayerischen Hütchen auf dem Kopf schiebt einen Rolltisch herein, darauf, unter einer silbernen Glocke, ein Körbchen mit Graubrot und eine mit Sauerkraut Âverzierte Aufschnittplatte. Ich schreibe meinen Namen Âunter einen Bon, den er mir hinhält, und wünsche ihm einen guten Tag. Als die Tür zufällt, wird mir bewusst, dass ich vergessen habe, ein Trinkgeld zu geben.
Ich schenke Tee ein und bringe ihn Sigrid ans Bett. »Gut trinken. Das entschlackt.«
Stöhnend richtet sich Sigrid auf und nimmt zwei winzige Schlückchen. Plötzlich krümmt sie den Rücken, ihre Schultern zucken, der Tee schwappt über den Rand. Ich schaue auf die Tränen, die langsam an Sigrids Tasse entlangrinnen und auf das Bettzeug fallen. »Niemand liebt mich«, schluchzt meine Schwester. »Niemand liebt mich wirklich.«
Natürlich nicht, denke ich erstaunt. Warum sollten die Menschen auch? So nett bist du nicht.
Doch stattdessen sage ich: »Aber, aber, nicht weinen. Sjors liebt dich, ich liebe dich. Wie kannst du so etwas sagen? Du bist nicht einmal Witwe wie ich.«
Ich setze mich auf den Rand der Bettcouch und klopfe Sigrid auf den Rücken. Ich spüre die Magerkeit unter dem Nachthemd, die Wirbel wie Höcker unter meiner Handfläche. Was für ein Klappergestell. Unsere Sigi zwischen den Tutti.
»Niemand. Da ist niemand.« Sigrid nimmt ein Zierkissen vom Sofa und schmiegt ihren Leib wie eine Muschel darum. Eine alte Muschelschale. Krumme Schwester. Mit Schlüsselbeinen wie Kleiderbügel.
»Weine nur«, sage ich ermutigend. »Das ist gut. Man soll nichts in sich hineinfressen. Davon kriegt man bloà Gallensteine.«
Sigrid heult eine Viertelstunde lang, dann verstummt sie, von ein, zwei zittrigen Seufzern abgesehen.
Was soll ich zu ihr sagen? Dass ich das Gefühl kenne, obwohl ich ein Kind habe? Auch mit einem Kind kann man das Gefühl haben, dass alles schiefgegangen und aus dem Takt geraten ist. Ich reibe mir die Hände. Mir ist plötzlich kalt, als würde irgendwo ein Fenster offen stehen. Ich kann mir nicht vorstellen, was Sigrid empfindet, wenn sie nach dem Sommer ihren Platz am zweiten Pult einnimmt. Ich will es nicht. Ich kann und will mir nicht vorstellen, wie es für Sigrid gewesen ist, die paar Male, die ich mit Sjors zusammen war. Ich hätte es nie tun dürfen, natürlich, aber ach, wovon reden wir überhaupt? Zehn- oder zwanzigmal war es nur, und es ging so leicht. Die Hotels lagen da, und die Noorderhagen war hier. Ich zog die Tür hinter mir zu und trat in ein ganz anderes Leben. So völlig anders als mit Karel.
Wenn ich mir vorstelle, was es für Sigrid bedeutet, fang ich auch gleich an zu flennen. Und dann gibt es kein Halten mehr. Dann höre ich, wie Papa Sigrid ins Ohr flüstert: »Du vorn, na los, du hast am meisten Ausstrahlung und Talent, du bist meine kleine Königin. Nicht Tine. Bist du verrückt. Nein, die verstauen wir hinter dem Deckel vom Flügel.«
Ich werde so heftig weinen müssen, dass irgendwo ein Damm bricht und ein komplettes Tal mit Häusern voller Menschen, Kühen im Stall und Autos verschlungen wird und die Bettcouch, auf der ich sitze, dazu.
Ich hole ein Taschentuch aus dem Ãrmel meiner Bluse und reiche es Sigrid. Sigrid pustet ihre Nasenlöcher mit einem Fanfarenstoà frei.
»Erzähl mal, wie ist das
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