Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
erklärte er. »Syrolee versteht sie vermutlich bis heute nicht. Aber sowie sie unsterblich war, hatte sie große Pläne. Zuallererst wollte sie Pellys loswerden. Mangels einer besseren Erklärung sind wir inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass offenbar der Lebenswille den Ausschlag gibt, wer überlebt und wer verbrennt. Was wir damals nicht wussten, war, dass man einfach nicht vorhersagen kann, wer den stärkeren Lebenswillen hat. Manche behaupten, ihn zu haben, und Minuten später sind sie Toast. Andere – und die sind selten – besitzen einen Lebenswillen, den selbst die Flamme erkennt und respektiert. Und wie sich herausstellte, war Pellys einer von diesen. Syrolee setzte ihren Ehemann in Brand, weil sie ihn für zu dämlich hielt, um zu begreifen, was geschah, und sicher war, dass er verbrennen würde.«
»Aber er überlebte.«
»Nicht nur das. Er hat beinahe genauso viel Macht über die Gezeiten wie ich, was Syrolee ganz schön wurmt, das kannst du mir glauben.«
Ich schlang mir die Arme um den Körper, eine unerklärliche Kälte durchströmte mich. Lukys hat manchmal diese Wirkung auf andere. Er hat so eine Art, die furchtbarsten Sachen im lockeren Plauderton zu erzählen. »Bei den Gezeiten! Das klingt alles viel zu fantastisch, um real zu sein.«
Ich erinnere mich, dass er mitfühlend lächelte. »Manchmal geht es mir immer noch so.«
Seine Kameraderie überraschte mich. Ich sah meinen auskunftsfreudigen neuen Freund misstrauisch an. »Erzählst du mir das alles aus einem bestimmten Grund?«
Lukys nickte. »Du wirst mit Tryan nach Kordanien reisen, um diese dir so wichtige Mission zu erfüllen. Ich wollte sichergehen, dass dir klar ist, mit wem du es zu tun hast.«
»Du denkst, ich sollte nicht fahren?«
»Ich denke, dir steht ein schlimmes Erwachen bevor, mein Freund«, berichtigte er mich. »Aber wenn es eines gibt, das ich gelernt habe, seit ich unsterblich bin, dann ist es, dass nur die Lektionen hängen bleiben, die man aus eigener Erfahrung lernt. Geh nach Kordanien zurück. Lehre dein Volk die Macht der Gezeiten. Und wenn du das getan hast, dann komm zu mir zurück. Ich schätze, wir beide werden eine Menge zu bereden haben.«
37
Cayal verstummte. Eben erreichte die Kutsche die Landstraßenkreuzung außerhalb der Stadt, und Arkady fand sich unvermittelt in der Gegenwart, als das Gefährt nach rechts abbog und der Straße folgte, die in die Berge führte. Die Hauptstraße, die durch die Stadt zum Palast führte, verschwand hinter ihnen in der Ferne. Es war durchaus möglich, den Palast auf dieser Route zu erreichen, aber der Weg war erheblich länger.
Arkady hatte den Kutscher bereits instruiert, als sie am Morgen den Palast verließ. Das Ziel, das sie im Sinn hatte, war der Gasthof im Tal der Gezeiten. Er lag an einem Weg, der bei den Bergarbeitern sehr beliebt war, auch die Goldsucher, die die Gebirgsausläufer um Lutalo herum nach angeschwemmtem Edelmetall durchkämmten, nahmen ihn gern.
Cayal saß stumm da und blickte auf die vorbeiziehende Landschaft. Obwohl Arkady gern noch mehr gehört hätte, war sie froh über die Gelegenheit, ihre Gedanken zu ordnen. Was sie vorhatte, war bestenfalls töricht und schlimmstenfalls Verrat an der Krone. Es war höchst fraglich, ob sie Cayal vor der Folter retten konnte, die ihn in Declan Hawkes’ Gewahrsam erwartete, oder ob sie vielmehr nur dasselbe Schicksal auf ihre eigenen Schultern lud.
»Den Palast von Lebec habe ich mir aber prächtiger vorgestellt«, bemerkte Cayal, als die Kutsche schaukelnd im Hof des baufälligen Gasthofs zum Stehen kam.
Das Wirtshaus gehörte einem Einarmigen namens Clyden Bell. Arkadys Vater hatte einst den linken Arm des Bergmanns amputiert, als er verschüttet war und der halbe Berg ihn unter sich zu begraben drohte. Clyden hatte den Mut ihres Vaters an diesem Tag nicht vergessen. Und er würde auch nie vergessen, dass er dem zufällig vorbeigekommenen Arzt sein Leben verdankte. Arkadys Vater war mit seiner zehn Jahre alten Tochter in Fiona gewesen, und die beiden befanden sich auf dem Nachhauseweg. Arkady erinnerte sich gut, wie die Laterne in ihrer Hand gezittert hatte, als sie an der Seite ihres Vaters in der dunklen Mine stand und das Knarren der Balken hörte, die über ihnen einzustürzen drohten. Sie reichte ihm seine Knochensäge und die anderen Instrumente, die er brauchte, um den jungen Mann zu befreien, wischte dem eingeklemmten verängstigten Bergmann den Schweiß von der Stirn und tat
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