Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
wurden, um der Menschheit zu helfen, nicht um sie zu unterjochen. Sie war bereit, dafür einzutreten, und man konnte auf sie zählen.
Wie bei vielem, was ich damals tat, war es die Langeweile, die mich nach Acern zog, um Brynden und Kinta aufzustöbern. Unsterblichkeit scheint zunächst eine fantastische Gabe. Aber hier liegt der Hase im Pfeifer: Wer genug Zeit hat, kann jede Kunst beherrschen lernen, sich jedes Wissen aneignen. Doch wenn das erreicht ist, gibt es nichts mehr zu tun. Der Weg ist das, was das Leben lebenswert macht. Das Ankommen am Ziel ist bloß ein Zwischenhalt, eine Rast, um zu verschnaufen, ehe man etwas Neues beginnt.
Solche Gedanken lassen Sterbliche um mehr Zeit beten.
Solche Gedanken lassen Unsterbliche verrückt werden.
Ich war zu dieser Zeit bereits sattsam gelangweilt, und mit jedem Jahr, das verstrich, wurde es schlimmer. Ich hatte schon zu viele Jahre erlebt. Es gibt auf dieser Welt nur eine begrenzte Anzahl von Dingen zu tun und zu lernen, doch ich hatte unbegrenzt Zeit.
Und was dann? Was bleibt noch, wenn man jede dem Menschen bekannte Sprache flüssig sprechen kann? Wenn man malen kann wie ein Meister, ebenso leicht wie man ein Schaf schert, eine Kuh melkt oder einen Palast erbaut?
Menschen sind nicht für die Ewigkeit bestimmt.
Ich erfuhr von Maralyce, dass Lukys in Torlenien war. Maralyce ist die sonderbarste unter den Unsterblichen und die einzige, von der ich nicht sagen kann, wer sie unsterblich gemacht hat. Ich glaube, sie war Ende vierzig, als sie unsterblich wurde. Ob sie schon vorher eine launische, ältliche Einzelgängerin war oder nach Tausenden von Jahren gefährtenloser Langeweile einfach so wurde, weiß ich nicht. Sie hat für die Übrigen von uns wenig oder gar keine Zeit, Lukys vielleicht ausgenommen, und wenn ihre Kräfte den Höchststand erreichen, lebt sie nicht anders als dann, wenn sie hilflos ist.
Ich traf durch Zufall auf Maralyce, als ich Glaeba besuchte, um mich zu zerstreuen. Es war damals eine trockene, hügelige Gegend. Das alte Mädchen hatte sich ganz behaglich in den Bergen eingenistet, die das große zerklüftete Urstromtal umschließen und einst Eure Vorfahren von den caelischen Barbaren auf der anderen Seite trennten. Maralyce sucht nach Gold. Ehe sie unsterblich wurde, war sie Bergarbeiterin, und sie betrachtet ihre Gabe einfach als ein Geschenk der Gezeiten, das ihr unbegrenzt Zeit verschafft, um nach Gold zu schürfen. Damals hatte sie bereits ein ausgedehntes Netz von Tunneln durch Eure reichen, erzhaltigen Berge gegraben und hortete ihr Gold in einer verborgenen Höhle, was bis heute der Stoff für Legenden ist.
Jedenfalls war es Maralyce, die mir knurrig verriet, was sie kürzlich gehört hatte: dass Lukys auf dem Weg nach Torlenien war. Ich schätze mal, sie war nicht hilfsbereit, sondern versuchte nur, ihren ungebetenen Gast loszuwerden.
Ich verstand den Wink, genoss eine letzte gemeinsame Mahlzeit mit meiner widerwilligen Gastgeberin, verließ Maralyces Häuschen hoch oben in den Shevronbergen und machte mich auf nach Süden.
»Du hättest zu keiner besseren Zeit kommen können, Bruder Cayal«, empfing mich Brynden ernst, als ich in Torlenien eintraf. Ich wurde sehr freundschaftlich willkommen geheißen, aber nachdem ich meine Gastgeber begrüßt hatte, bekam ich einen ordentlichen Schreck, denn ich musste feststellen, dass Medwen ebenfalls Gast im Palast war. Sie küsste mich zur Begrüßung auf den Mund und lächelte matt. Trotz der Herzlichkeit ihrer Begrüßung lag so eine gewisse Zerbrechlichkeit in ihrem Verhalten, die in mir den Verdacht weckte, dass etwas nicht stimmte.
Lukys tauchte später am Tag auf. Coron, seine zahme Ratte, saß wie immer auf seiner Schulter. Wir zwei saßen zusammen mit einem Glas Wein auf den Burgzinnen und machten uns daran, einander von den Höhepunkten der letzten achthundert Jahre zu erzählen. Am Abend war ich zu einem asketischen Mahl in Bryndens nüchternem Speisesaal eingeladen, nur in Gesellschaft von Kinta, Medwen und Lukys. Es gab an Bryndens Tisch keine Angestellten, um die Gezeitenfürsten zu bedienen. Brynden hält das für eine überflüssige Extravaganz.
Bryndens Bemerkung über den passenden Zeitpunkt meiner Ankunft ging mir nach, blieb aber unerklärt. Erst bei diesem Abendessen bekam ich Gelegenheit, ihn zu fragen, warum er, der nie mehr als ein beiläufiges Interesse an meinem Tun und Lassen gezeigt hatte, plötzlich so erfreut war, mich zu sehen.
»Als ich ankam, Bryn, hast du
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