Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
Vater zu befreien, oder war es auch der bequemste Weg, um mich nicht meinen eigenen Ängsten stellen zu müssen?
Sie wusste die Antwort nicht, und das beunruhigte sie beinah ebenso wie die Wirkung, die Cayal auf sie hatte.
»Er ist es nicht wert, weißt du.« Maralyce sah grimmig von dem Flaschenzug auf, den sie am Tisch wieder gängig zu machen versuchte.
Arkady starrte gerade aus dem Fenster auf den Hof, wo Cayal beim Holzhacken war. Er hatte zur Arbeit sein Hemd abgelegt, kleine Sprenkel Sonnenlicht huschten über die Muskulatur seines ebenmäßigen Rückens. Völlig gebannt verfolgte sie das Heben und Fallen der Axt und der kräftigen Arme, die die Axt führten. Die Muskeln spielten unter der glatten Haut, bis die Sehnen sich vor Anstrengung deutlich abzeichneten …
Sie riss sich zusammen, sicher, dass sie gerade tiefrot angelaufen war, und wandte sich Maralyce zu. »Wie bitte?«
»Cayal«, sagte die alte Frau. »Er ist es nicht wert, dass man sich über ihn den Kopf zerbricht. Letztlich ist er bloß ein Mann. Ein hübsch anzusehender Kerl, das will ich zugeben, aber letztlich doch bloß ein Mann.«
»Glaubt Ihr, dass er unsterblich ist?«
»Habs geglaubt, als ich ihn das erste Mal traf«, sagte Maralyce und wandte sich wieder ihrem Flaschenzug zu. »Kann nicht behaupten, dass er in den letzten achttausend Jahren viel dafür getan hat, dass ich meine Meinung ändere.«
»Hat er Euch erzählt, was er in Glaeba gemacht hat, nachdem Fliss gestorben war?«
»Du meinst die Sache mit dem Regen? Musste er nicht. Der kleine Scheißer brachte mit seinem Koller zweihundert Jahre meiner Arbeit zum Absaufen. Ich hab ihm das nur aus einem Grund verziehen. Es führte nämlich dazu, dass ich einen neuen Stollen zur Mine graben musste, und dabei stieß ich auf eine Ader, von der ich nichts ahnte.«
Arkady musste unwillkürlich lächeln über die Bodenständigkeit dieser Frau. »Ihr scheint mit Eurer Unsterblichkeit viel … besser klarzukommen als er«, bemerkte sie.
Maralyce sah auf. »Na, ich versuch ja auch nicht dagegen anzukämpfen. Cayal hat sich nie damit abgefunden, für immer zu leben, und da ist er nicht der Einzige. Er ist bloß der Mächtigste von denen, die ihr Los im Leben nicht annehmen wollen, und das macht ihn mächtig gefährlich. Allerdings ist er auch ein hartnäckiger kleiner Dickkopf«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Wenn einer einen Weg aus dieser Hölle für uns findet, dann er.«
»Ihr nennt es Hölle. Wollt Ihr denn sterben?«
»Mir egal«, sagte die alte Unsterbliche achselzuckend. »So oder so – es macht mir nichts aus, zu leben, aber es schert mich auch nicht, wenn’s vorbei ist.«
»Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es für Euch sein muss.«
»Hat auch niemand drum gebeten. Hast du schon mit ihm geschlafen?«
Arkady richtete sich abwehrend auf. »Nein.«
»Solltest du vielleicht. Es heißt, er war ziemlich gut im Bett. Nicht dass ich es je selber geprüft hätte. Bin alt genug, um seine Mutter zu sein. Und deine auch, würde ich sagen.«
Arkady lächelte. »Wenn Ihr mehrere tausend Jahre alt seid, Maralyce, macht Euch das wohl alt genug, um jedermanns Mutter zu sein.«
Die alte Frau gönnte ihr ein seltenes Lächeln. »Ich mag dich, Arkady. Du hast Mumm. Lass dich nicht von ihm umbringen.«
»Ich werde darauf achten«, versprach Arkady. Dann wandte sie sich wieder dem staubigen Fenster zu, starrte Cayal beim Holzhacken an und ließ sich von ihrer Fantasie dorthin tragen, wo sie im wirklichen Leben nicht sein konnte, weil sie viel zu viel Angst hatte.
57
Es war Nachmittag und regnete, als Warlock und Boots Shalimars Mansardenwohnung verließen. Beide hatten sich satt gegessen, waren aber zu keinem Schluss gekommen, was die Gezeitenfürsten vorhaben mochten. Shalimar hatte weder den Standort des Verborgenen Tals preisgegeben noch Warlock irgendeinen Hinweis geliefert, dass er das je vorhatte, vielmehr hatte er sie so eilig aus seiner kleinen Wohnung gescheucht, als wäre ein Feuer ausgebrochen.
Warlock brütete jedoch nicht lange darüber.
Im Laufe des Tages war Boots’ Duft stärker und stärker geworden. Er hatte sich schließlich kaum noch darauf konzentrieren können, was Shalimar sagte.
Warlock war nicht der einzige Crasii-Mann in den Slums, der sie riechen konnte. Als sie auf einer weit weniger umständlichen Route zum Zwinger zurückgingen, folgte ihnen eine wachsende Anzahl junger Männer, angezogen von dem unwiderstehlichen Aroma, das Boots
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