Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
Aufmerksamkeit war anderswo, sein Blick abwesend, als lauschte er auf etwas, was Arkady nicht hören konnte. Er lag noch ein Weilchen so da, still wie ein Felsen, dann setzte er sich plötzlich kerzengerade auf. Ohne ein Wort der Entschuldigung stieß er Arkady beiseite, warf die Felle von sich, sprang fluchend aus dem Bett und suchte nach seinen Beinkleidern.
Arkady starrte ihn beunruhigt an. »Cayal? Was ist los?«
»Jaxyn ist hier«, sagte er und schlüpfte hastig in die abgelegte Gefängniskleidung.
»Wie kannst du …?«
»Ich kann ihn in den Gezeiten spüren.«
»Aber Jaxyn ist …« Arkadys Stimme versiegte vor Schreck, als ihr plötzlich etwas Furchtbares in den Sinn kam, zu schrecklich, um darüber nachzudenken.
Ein mieser kleiner Opportunist, hatte Cayal ihn einmal genannt. Jaxyn wird schon ein Auge auf das Land geworfen haben, das er zu regieren gedenkt, sobald keiner mehr da ist, der sich ihm in den Weg stellt …
»Cayal, warte!«, rief sie ihm nach, als er ohne sie zu berühren die Schlafzimmertür so hart aufstieß, dass die Hütte bebte. Er hastete in den Hauptraum, um seine Stiefel zu suchen.
»Ich habe keine Zeit zu warten«, sagte er. »Zieh dich an.«
»Aber ich glaube …« Sie konnte ihren Satz nicht beenden, denn in diesem Moment ertönte im Hof eine schauerlich vertraute Stimme.
»Cayal! Oh Cayal! Komm raus, komm raus, wo immer du bist! Die Gezeiten wechseln, Bruder. Zeit für dich und mich, ein wenig Spaß zu haben!«
Noch immer nackt und so voller Angst, dass ihr übel davon war, eilte sie zum Fenster und spähte hinaus, nur um ihre schlimmste Befürchtung bewahrheitet zu sehen.
»Komm schon, Cayal! Sei kein Spielverderber. Zwing mich nicht, dich zu holen!«
Dort im Hof, gänzlich Herr der Lage, stand ein Gezeitenfürst, umgeben von fast zwei Dutzend Feliden einschließlich derer, die Arkady vom Palast mitgenommen hatte. Die Fackeln, die die Crasii hielten, erhellten den Hof mit flackerndem unbeständigem Licht, aber es gab keinen Zweifel, wer die Gestalt war, die von dort draußen Cayal verhöhnte.
Es war der Fürst der Askese persönlich, Jaxyn Aranville.
61
Arkadys Reaktion auf Jaxyns Auftauchen überraschte Cayal mehr als die Ankunft seines alten Feindes. Sie hatte ihn eindeutig wiedererkannt. Er seufzte und dachte, dass Jaxyn wahrlich den Bogen raus hatte, sich das denkbar behaglichste Nest zu suchen, solange Ebbe herrschte. Es grenzte schon fast an Magie.
Mein Mann hat einen Freund namens Jaxyn, hatte Arkady erzählt.
Bei den Gezeiten! Ein Palast, ein Ort voller wohlgehüteter Geheimnisse … natürlich, genau die Art Schlupfloch, für die Jaxyn ein Naschen hat. Cayal hätte sich eigentlich denken können, auf wen Arkady sich bezog.
»Du kennst ihn?«, fragte er und zog sich sein Hemd an.
»Er ist …« Sie zögerte und schien im Stillen etwas abzuwägen. Schließlich wandte sie sich ihm zu und sagte ausdruckslos: »Jaxyn Aranville ist der Liebhaber meines Gemahls.«
Cayal war nicht überrascht, weder davon, dass Arkadys Mann einen männlichen Liebhaber hatte (was allerdings einiges über Arkady erklärte), noch dass es Jaxyn war. Jaxyn war noch etwas älter als Cayal, und es gab kaum etwas, das er noch nicht getan, und kaum jemanden, dem er noch nichts getan hatte. Der Name Aranville … nun, den hatte er wahrscheinlich gestohlen, indem er den echten Aranville umbrachte, oder er hatte sich den Familiennamen nur ausgeborgt, um einen Fuß in die Tür des Palasts von Lebec zu bekommen. Das war nicht sonderlich schwierig. Cayal war selbst schon einige Male so vorgegangen, um sich eine gemütliche Nische zu sichern und den Tiefstand der Gezeiten auszusitzen. »Er kommt ganz schön herum, unser Jaxyn, nicht wahr? Ich nehme an, du hattest keine Ahnung, wer er ist?«
»Machst du Witze? Ich verarbeite immer noch, dass du ein Gezeitenfürst bist. Glaub mir, ich bin weit davon entfernt, mich damit abzufinden, dass ich seit einem Jahr einen unter meinem Dach beherberge.« Sie schüttelte den Kopf und richtete sich auf. Vermutlich war ihr nicht bewusst, dass ihr nackter Körper im Schein der Fackeln auf dem Hof deutlich zu sehen war. »Ich schätze, das erklärt immerhin, warum er so gut darin war, die Crasii zur Arbeit anzuhalten.«
Gezeiten, sie ist so wunderschön, dachte er und hörte nur mit halbem Ohr zu. Und es ist ihr vollkommen egal.
In achttausend Jahren hatte Cayal noch nie jemanden getroffen, der so wenig von sich eingenommen war wie Arkady
Weitere Kostenlose Bücher