Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
wissenschaftlichen Kreise von Glaeba.
Jetzt, da Declan wieder nach Herino zurückgekehrt war, lag die Verantwortung dafür, den Gefangenen als Schwindler zu entlarven, allein in ihren Händen. Sie hatte beschlossen, sich bei der Vernehmung von Kyle Lakesh zunächst auf seine angebliche Unsterblichkeit zu konzentrieren. Bedauerlicherweise entfiel ja die naheliegendste Möglichkeit, nämlich ihn erneut hinrichten zu lassen und zu sehen, ob er es überlebte. Also galt es, die schwächste Stelle seiner Geschichte ausfindig zu machen. Die Vorstellung von Unsterblichkeit, für Arkadys wissenschaftlich geschulten Verstand vollkommen absurd und abwegig, musste dennoch ihren eigenen Regeln folgen. Darum hatte sie einen Fragenkatalog erarbeitet, der seiner Farce sicher sehr bald ein Ende setzen würde.
Wieder regnete es, wie fast jeden Tag der ganzen letzten Woche, und wieder fuhr sie auf derselben Strecke zum Gefängnis. Die Felder standen schon in sattem, saftigem Grün. Den Crasii, die sie bestellten, ein spätes Feld besäten oder von Unkraut befreiten, schien die nasskalte Witterung wenig auszumachen. Sie überlegte müßig, ob das Wetter den Crasii wirklich nichts anhaben konnte oder ob das nur wieder so eine Fehlannahme der Menschen war, die die Crasii für Tiere hielten und deshalb für empfindungsloser als vollwertige Menschen.
Dieses Mal kam nur Timms, um sie zu empfangen. Der Kerkermeister hielt es wohl nicht mehr für erforderlich, sie bei ihrer Ankunft persönlich zu begrüßen, doch er ließ ihr ausrichten, dass er sie nach der Befragung des Gefangenen zum Nachmittagstee erwartete. Sic folgte Timms die scheinbar endlose Wendeltreppe hinauf zum Rückfälligentrakt. Von den widerwärtigen Gefängnisgerüchen drehte sich ihr fast der Magen um, und sie fragte sich, wie sich Menschen an solche Zustände gewöhnen konnten.
Als sie endlich im vierten Stock ankamen, stellte sie fest, dass auf dem Korridor zwischen Warlocks und Kyles Zelle ein Stuhl für sie bereitstand. Beim Nähertreten bot sich ihr ein verblüffender Anblick. Kyle Lakesh war frisch gesäubert, was eine völlig andere Person aus ihm machte. Er wirkte deutlich jünger als am Tag zuvor, vielleicht wie sechs- oder siebenundzwanzig. Seine Haut war blass, viel heller als glaebische Haut, und er war mehr als vorzeigbar, er sah sogar ausgesprochen gut aus. Arkady blieb wie angewurzelt stehen, als ihr erschütternd bewusst wurde, dass ihre erste Reaktion auf seinen respektablen Anblick eindeutig aus dem Bauch kam. Das hatte sie nicht erwartet.
Er sah ihr entgegen und lächelte, als er ihre Überraschung bemerkte. »Der Kerkermeister dachte wohl, dass ich für Eure hochwohlgeborenen Empfindungen eine Zumutung bin, Euer Gnaden«, erklärte Kyle und lehnte sich lässig an die Gitterstäbe. »Dank Eurer Besuche bekomme ich ab sofort jeden Tag ein Bad. Schon dafür würde ich diese Scharade willig weiterfuhren, vorausgesetzt, Ihr versprecht, mich weiterhin zu besuchen.«
Arkady sah ihn argwöhnisch an und drehte sich dann zu Warlocks Zelle um. Der Crasii saß in der Ecke auf dem Boden, das Kinn auf die Brust gesenkt, als schlafe er.
»Guten Tag, Warlock.«
»Euer Gnaden«, erwiderte der riesenhafte Canide mit seiner tiefen Stimme.
»Warum Zeit mit dieser räudigen Töle verschwenden?«, fragte Kyle. »Seid Ihr nicht gekommen, um mit mir zu sprechen?«
Arkady wandte sich dem Caelaner zu. »Also schön. Vielleicht würdet Ihr mir gern erzählen, wie es ist, unsterblich zu sein.«
»Es ist ein Albtraum«, erwiderte Kyle. »Nächste Frage.«
»Ein Albtraum?«., wiederholte sie neugierig.
»Das ist keine korrekte Frage.«
»Aber Eure Antwort wundert mich, Master Lakesh.«
»Ich hatte Euch doch gebeten, mich Cayal zu nennen.«
»Nun gut, Cayal – also warum ist es ein Albtraum, unsterblich zu sein?«
»Na, weil es niemals endet«, erwiderte Cayal, als läge die Antwort auf der Hand.
»Ich hätte gedacht, das Gegenteil sei der Fall«, sagte Arkady. »Ich meine, es ist doch etwas, von dem wir alle insgeheim träumen? Alle Zeit der Welt zu haben … man wäre in der Lage, jede Sprache zu erlernen, jede Fertigkeit zu meistern, jedes Ziel zu erreichen. Nie alt werden. Wenn ich glauben soll, was Ihr behauptet, dann habt Ihr das Geheimnis ewiger Jugend entdeckt. Und dennoch suhlt Ihr Euch in Selbstmitleid.«
»Selbstmitleid?« Er sah ernstlich beleidigt drein.
»Habt Ihr einen besseren Ausdruck dafür?«
»Ihr begreift nicht, wie es ist«, sagte er. »Ihr
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