Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
fragte sich im Stillen, wie weit er diesen Teil seiner Geschichte wohl ausgearbeitet hatte.
Der junge Mann zuckte die Achseln. »Vielleicht ein paar Stunden. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was für Schmerzen das waren. Aus irgendwelchen Gründen wächst Knochenmasse schneller nach als Fleisch. Je mehr Gewebeschäden man hat, desto länger dauert die Heilung und desto schmerzhafter ist sie auch.«
»Und wenn Euch jemand den Kopf abschlägt?«, fragte sie in der Gewissheit, nun beim Schwachpunkt seiner Geschichte angekommen zu sein. Sie musterte ihn neugierig, ohne ihre Skepsis zu verbergen. »Wächst der vielleicht auch nach?«
»Na, und ob«, bekräftigte Cayal.
Seine Antwort überraschte Arkady. Das hatte sie nicht erwartet. »Ihr sagt, wenn man einen Gezeitenmagier köpft, wächst ihm der Kopf wieder nach?«, wiederholte sie, um sicherzugehen, dass sie ihn richtig verstanden hatte. »Das ist unmöglich.«
»In Eurer Welt schon, Lady. In meiner nicht.«
»Aber dann muss ja …«
»Magie im Spiel sein«, beendete Cayal den Satz für sie. »Etwas, das Ihr offensichtlich nur schwer fassen könnt.« Er stieß sich vom Gitter ab, schlenderte in den hinteren Teil seiner Zelle und setzte sich auf die strohbedeckte Pritsche. »Wenn Ihr mir nicht glaubt, fragt den armen alten Pellys.«
»Pellys den Einsiedler?« Das war der Name einer weiteren Karte aus Tillys Tarotdeck.
»Der Einsiedler?« – Cayal kicherte, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich an die raue Steinmauer. »Wärt Ihr nicht auch lieber Einsiedlerin, wenn Euch jemand den Kopf abschlägt, der nach einigen Stunden der schlimmsten Qualen, die Ihr Euch vorstellen könnt, wieder nachwächst – woraufhin Ihr feststellen müsst, dass Ihr keine Ahnung mehr habt, wer Ihr seid, weil all Eure Erinnerungen mit dem alten Kopf in den Korb des Scharfrichters geplumpst sind?«
»Wollt Ihr sagen, dass das mit Pellys geschehen ist? Jemand hat ihm den Kopf abgehackt?«
»Solche Dinge geschehen, wenn man einen Gezeitenfürsten verarscht«, warnte Cayal. »Ein paar von uns haben absolut keinen Sinn für Humor.«
»Warum hat ein anderer Gezeitenmagier Pellys geköpft?«
Er starrte sie mit diesen durchdringend blauen Augen an, die selbst in der dämmrigen Zelle von selbst zu leuchten schienen. »Warum sollte ich das ausgerechnet Euch erzählen? Ihr glaubt mir doch kein einziges Wort.«
»Mich interessiert mehr, ob Ihr selbst überhaupt daran glaubt – oder nicht.«
Cayal schien von ihrer Unterstellung ehrlich überrascht. Er stand auf und kam wieder ans Gitter. »Nehmt Ihr an, dass ich Unzurechnungsfähigkeit vortäusche, um einer zweiten Hinrichtung zu entgehen?«
»Ich frage mich, woher ein Mann, der behauptet, ein einfacher Wagenschmied aus Caelum zu sein, so viel über das glaebische Justizsystem weiß. Oder wie kommt Ihr darauf, dass diese Möglichkeit sich überhaupt anbietet?«
Cayal runzelte die Stirn, offensichtlich verärgert. »Lasst uns eins klarstellen, Euer Gnaden. Erstens behaupte ich nicht, ein Wagenschmied zu sein; ich behaupte, ein Gezeitenfürst zu sein. Dass ich zufällig weiß, wie man einen Karren repariert, ist hier nicht von Belang. Ich lebe schon seit achttausend Jahren; ich kann eine ganze Menge Dinge. Zweitens weiß ich vermutlich mehr über Euer Justizsystem als Ihr. Ich bin so etwas wie ein Experte für sämtliche Rechtssysteme von Amyrantha. Die Gezeiten wissen, in vielen davon ich schon verurteilt worden bin.«
»Ihr wart schon zuvor im Kerker?«
»Torlenien hat mich einmal vor Gericht gestellt. Nach dem dritten Weltenende. Natürlich war ich bei diesem Prozess nicht persönlich anwesend – ich musste erst mal verarbeiten, wie schnell die Gezeiten gewechselt hatten –, aber soviel ich hörte, haben sich alle Beteiligten kolossal amüsiert. Übrigens haben sie mich auch zum Tode verurteilt, was ziemlich dämlich ist, wenn man bedenkt, dass ich unsterblich bin. Ich meine, Ihr seht ja, wie es Euren Leuten ergangen ist.«
Dieser Mann ist wirklich sehr, sehr gut, dachte Arkady. Es war kein Wunder, dass die Caelaner annahmen, mit seinem Einsatz Erfolg haben zu können.
»Wie lautete denn die Anklage?«, fragte sie, als spielte sie mit, um zu sehen, wie weit er ging.
Je mehr er ihr erzählte, desto größer war ihre Chance, ihn zu entlarven. Je komplexer seine Geschichte wurde, je mehr er ins Detail ging, desto mehr hatte sie in der Hand, um ihn zu Fall zu bringen. Niemand konnte auf Dauer so konsequent
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