Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
Gefängniskorridor hinweg lauschte der Crasii aufmerksam ihrer Befragung des Caelaners, und obwohl er ihn spürbar verachtete, schien jedes Wort des Möchtegern-Magiers ihn in seiner Meinung zu bestärken, dass Cayal tatsächlich war, was er zu sein behauptete.
Nicht einen Augenblick lang glaubte Arkady, dass Kyle Lakesh wirklich Cayal, der unsterbliche Prinz war. Aber sie wusste, wie intensiv sich die Mythologie der Crasii mit den Gezeitenmagiern beschäftigte und wie wesentlich die Existenz der Unsterblichen für das Selbstverständnis der Crasii und ihren Platz in der Welt war. Laut ihrer Überlieferung waren die Gezeitenfürsten ihre Schöpfergottheiten. Von der Mutter, jener namenlosen Magierin, die ihren Glaubensvorstellungen nach für ihre Existenz verantwortlich war, wurde nur in flüsternder Ehrerbietung gesprochen, Dritten gegenüber erwähnte man sie höchst selten. Der Legende nach hatten die Gezeitenfürsten die Crasii erschaffen, indem sie Menschen mit Tieren verschmolzen und ihnen den unstillbaren Zwang einpflanzten, ihnen zu dienen. Allerdings war die Beziehung der Crasii zu ihren Göttern ambivalent. Sie verabscheuten die Mutter und verehrten sie zugleich. Sie hassten die Gezeitenfürsten und waren gleichzeitig unfähig, sich ihren Befehlen zu widersetzen …
Jedenfalls wären sie dazu unfähig, wenn die Gezeitenfürsten wirklich real wären, ermahnte sich Arkady, als sie an die Tür zu Stellans Studierzimmer klopfte und eintrat, ohne eine Antwort abzuwarten. Es war warm im Zimmer, das Feuer, das im kunstvoll gemeißelten Marmorkamin flackerte, eigentlich gar nicht nötig an einem so milden Tag. Der Regen hatte nachgelassen, und die ganze Welt schien plötzlich heller und freundlicher.
Stellan saß in Hemdsärmeln hinter seinem Schreibtisch mit den Beinen aus Elfenbein und sah eines seiner riesigen, ledergebundenen Güterverzeichnisse durch, während Mathu ihm über die Schulter lugte. Der Prinz legte bislang ein einwandfreies Benehmen an den Tag und hatte bisher absolut nichts getan, was seinen Vater oder seine Gastgeber in Verlegenheit bringen konnte.
»Guten Morgen, Lady Desean.«
Arkady knickste anmutig vor ihrem Gast. »Eure Königliche Hoheit. Wie geht es Euch heute Morgen?«
»Ach, sterbenslangweilig ist mir«, klagte er. »Ich kann nicht glauben, wie öde es ist, zu lernen, wie man Steuern eintreibt.«
»Öde, aber notwendig, fürchte ich«, mahnte Stellan. »Aber wir könnten uns jetzt eine Pause gönnen. Was können wir für dich tun, Arkady?«
»Ich wollte mit dir über Kyle Lakesh reden.«
Der Prinz sah die beiden fragend an. »Wer ist Kyle Lakesh?«
»Ein caelischer Häftling, der im Gefängnis von Lebec sitzt, Euer Hoheit. Er behauptet, ein Gezeitenmagier zu sein«, erklärte Arkady. Sie hielt es für sinnlos, dem Kronprinzen von Glaeba die Details zu verheimlichen.
»Tatsächlich?«, fragte er, die Hände auf der Lehne von Stellans Stuhl aufgestützt. »Wie absurd! Warum sollte jemand so etwas behaupten?«
»Wenn die Crasii ihm das abnehmen, ist es alles andere als absurd«, erwiderte sie und setzte sich auf einen der mit aufwendigen Schnitzereien und Stickereien verzierten Polsterstühle vor dem Schreibtisch, die Stellans Großmutter passend zum Dekor des Raums hatte anfertigen lassen.
»Und glauben ihm die Crasii?«, fragte Mathu.
»Der Canide in der Zelle gegenüber glaubt es durchaus«, berichtete sie. »Und der ist über seine Anwesenheit alles andere als glücklich.«
»Du überraschst mich, Arkady.« Stellan lehnte sich mit einem Lächeln zurück. »Ich hatte dem Burschen in deiner Obhut nicht mehr als ein paar Stunden gegeben. Ich dachte, du hättest ihn längst geknackt.«
»Um ehrlich zu sein, hätte ich das auch gedacht«, gab sie zu. »Er ist ein viel besserer Lügner, als ich erwartet hatte. Verdächtig überzeugend.«
»Du meinst, dass dahinter mehr steckt als nur ein Versuch, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen?«, fragte ihr Gemahl mit einem Stirnrunzeln.
Sie zuckte die Achseln. »Wenn ich das nur wüsste. Der Mann ist Caelaner, vielleicht gibt es da einen Zusammenhang. Er hat einfach für alles eine Antwort. Es würde mich nicht im Geringsten überraschen, wenn er speziell ausgebildet worden wäre.«
Stellan nickte nachdenklich. »Wenn er ein Spion ist, würde das erklären, warum der Gesandte so interessiert an ihm ist.«
Mathu sah verwundert aus. »Euer Gnaden, wenn der Mann behauptet, unsterblich zu sein, müsste man ihn doch einfach nur
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