Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
Bevor der Tag zu Ende war, würde es wieder regnen, offenbar nutzte der alte Kater jeden Sonnenstrahl aus. Er war riesig und von der Brust abwärts von menschlicher Gestalt. Sein lohfarbenes Fell war schwarz und silbern gestreift und wuchs ihm um den Hals zu einer dicken Mähne zusammen, die sich auf Brust und Rücken fortsetzte. Als sie sich näherten, machte er keinerlei Anstalten, aufzustehen. Stattdessen drehte er sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, wodurch die Besucher beste Sicht auf sein enormes Gemächt bekamen.
»So ist er, unser Taryx«, bemerkte Stellan. »Ein Monarch von besten Manieren.«
»Er ist wirklich beeindruckend«, stimmte Mathu etwas unsicher zu.
Stellan lachte. »Gezeiten, lasst ihn das bloß nicht merken. Er ist so schon unerträglich eitel, auch ohne dass Ihr ihn in seinem Narzissmus bestätigt. Aber seid nett zu ihm. Er hält sich für den König des Reviers.« Sie blieben am Zaun stehen. »Guten Morgen, Hoheit«, rief Stellan.
»Guten Morgen, Euer Gnaden.«
Stellan wartete, und nach einem Weilchen ließ sich der Crasii dazu herab, sich von seiner Liegestatt zu erheben und zum Zaun hinüberzuschlendern, wo Stellan und Mathu standen.
»Was ist das denn«, fragte Taryx und lehnte sich gegen die hohen Zaunlatten, wobei er Mathu von oben bis unten neugierig musterte, »mein Mittagessen?«
»Dies ist seine königliche Hoheit, Prinz Mathu Debrec, Kronprinz von Glaeba.«
»Dann eben Abendessen«, kommentierte der Crasii.
Stellan lächelte. Feliden fraßen genauso wenig Menschenfleisch wie Caniden, aber Taryx hatte Spaß daran, diesen Mythos am Leben zu halten. »Mathu, dies ist Taryx, König der Feliden von Lebec.«
»Euer Ruf eilt Euch voraus, Hoheit.« Mathu spielte einfach mit. »Wie ich höre, habt Ihr die Hälfte unserer glaebischen Armee gezeugt.«
»Schon eher zwei Drittel«, berichtigte ihn der Crasii ein wenig verschnupft. Dann lächelte er plötzlich und wandte sich Stellan zu. »Wie ich höre, hat eines meiner Jungen letzte Nacht einen jelidischen Schneebären erledigt.«
Stellan nickte. »Das hat sie allerdings.«
»Verdammt, bin ich gut.«
Stellan war an Taryx’ Arroganz gewöhnt. Wenn es nach dem Zuchtkater ging, war er persönlich für alles verantwortlich, was seine Nachkommen leisteten, während ihre Fehler ihn nichts angingen. Manchmal beneidete Stellan dieses unkomplizierte Geschöpf, das behaglich untergebracht war, Futter nach Wunsch bekam und nichts weiter tun musste, als sich mit den Weibchen seines Reviers zu paaren. Wenn sein Fell derzeit etwas vernarbt war, lag das nicht an Revierkämpfen. Ein rolliges Felidenweibchen war eine rasende Bestie und die Paarung zweier Geschöpfe mit Klauen, die einem jelidischen Schneebären die Kehle zerfetzen konnten, alles andere als ungefährlich.
»Sagt ihr, dass ich stolz auf sie bin«, befahl Taryx.
»Das werde ich«, versprach Stellan. »Und Ihr passt auf Euch auf, ja? Diese Jungkater sind noch nicht so weit, dass sie Euren Platz einnehmen könnten.«
»Das werden sie nie«, prophezeite der Crasii zuversichtlich.
»Euer Gnaden«, mahnte Mitten, die allmählich ungeduldig wurde. »Wollt Ihr Chikita sehen oder nicht?« Sie stand hinter ihnen, ihr Schwanz peitschte gereizt hin und her.
»Natürlich«, stimmte ihr Stellan zu und schickte sich an, ihr zu folgen. Als sie weitergingen, sah Mathu noch einmal über die Schulter auf den alten Feliden zurück.
»Woran merkt Ihr es, wenn eines der anderen Männchen so weit ist, seinen Platz einzunehmen?«
»Die Feliden haben ein jährliches Fest. Sie nennen es den Fluss der Gezeiten. Teil der Feierlichkeiten ist es, den jüngeren Männchen die Chance auf einen Zweikampf mit dem König des Reviers zu geben.«
»Und der Sieger wird ihr neuer König? Das wird dem Verlierer ja Freude machen.«
»Der Verlierer ist für gewöhnlich tot, Mathu«, sagte Stellan ruhig. »Bisher hatten wir noch nie Probleme mit verärgerten Verlierern.«
Der Prinz sah schockiert aus. »Ihr lasst sie auf Leben und Tod kämpfen?«
»Das ist ihr Wunsch, nicht meiner. Aber ich sehe die Logik dahinter. Taryx wäre gefährlich und unkooperativ, wenn er von einem Jüngeren besiegt würde. Wir müssten ihn dann sowieso einschläfern lassen. Zumindest kann er auf diese Art glorreich untergehen.«
Mathu seufzte und schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, Ihr versucht den Crasii eine humanere Behandlung angedeihen zu lassen.«
»Aber es sind Feliden, Mathu«, bemerkte Stellan,
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