Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
antrieb, die kosmische Flut war und nicht die Kraft des Ozeans. Vor ihren Augen wuchs die seltsame Woge rasch an, bis sie etwa so hoch aufragte wie die Gletscherklippe, auf der sie standen.
Declan kämpfte gegen den Drang zurückzuweichen, als die Riesenwelle auf sie zuraste. Er wusste – wenigstens verstandesmäßig –, dass sie ihm nicht viel anhaben konnte, aber sein Instinkt war einfach noch nicht an die Unsterblichkeit angepasst.
Und dann, vorwarnungslos, blieb die Welle – urplötzlich und unerklärlich – direkt vor der Klippenkante in der Luft stehen.
»Vielleicht solltest du unseren Besuch danach fragen«, empfahl Taryx ungerührt, als eine patschnasse Gestalt in einem dünnen leinenen Hemd der reglosen Wasserwand entstieg und die Klippe betrat, wie eine vornehme Dame aus einer Kutsche steigt. Dann erst gab die Welle der Schwerkraft nach und stürzte mit ohrenbetäubendem Lärm ins Meer hinab.
»Mich wonach fragen?«, erkundigte sich die triefnasse Gestalt gelassen und neigte den Kopf leicht seitwärts, um sich das Wasser aus den Haaren zu wringen. Es war eine Frau in den mittleren Jahren, dunkelhaarig und kräftig, doch Declan hatte ihr Alter noch nie schätzen können. Vermutlich sollte er verblüfft sein, sie hier zu sehen -und sicherlich beeindruckt von ihrem bühnenreifen Auftritt in einer Woge –, aber Declans Sinne waren seit seiner Ankunft in Jelidien zu sehr überreizt worden, um solche Feinheiten noch groß zu spüren.
Kentravyon jedenfalls schien nicht sonderlich überrascht, ihre Besucherin zu sehen. »Nettes Schauspiel, Maralyce«, bemerkte er, als sie vor ihnen stand. »Hast du das geübt?«
»Sei nicht albern«, sagte sie und nickte den anderen grüßend zu. Dann fasste sie Declan ins Auge und schüttelte sich nebenbei das Wasser aus den Kleidern. Es war so kalt, dass sich Eiszapfen an ihren nassen Wimpern bildeten. »Na, mein Junge. Wie ich sehe, hast du hergefunden. Was meinte Taryx eben? Eine Frage?«
»Dein Enkel möchte gern wissen, woher wir wissen, was der Kristall des Chaos vermag«, sagte Taryx, bevor Declan ein Wort herausbrachte.
Maralyce zuckte unbekümmert die Achseln, als ob die Frage sie nicht im Geringsten berührte. Oder vielmehr, als wäre überhaupt nichts Seltsames an ihrem unangekündigten Eintreffen auf dem Rücken einer Welle. Sie zog sich das Hemd über den Kopf, um es auszuwringen, und benutzte die Gezeiten als Trockenschleuder. Dabei entblößte sie unbekümmert einen kerngesunden und verblüffend anmutigen, wohlgeformten Körper.
Declan blickte beiseite. Diese Frau war seine Urgroßmutter. Unsterblich hin oder her, das gab ihr doch nicht das Recht, sich dermaßen öffentlich zu entkleiden – oder in ihrem Alter einen solchen Körper zu haben.
»Wir haben das schon mal gemacht, Declan«, sagte Maralyce und schmunzelte über seine Verlegenheit. »So sind wir nach Amyrantha gekommen.«
Als ihm die Bedeutung ihrer Worte ins Bewusstsein drang, vergaß Declan ihre Nacktheit, hob den Kopf und starrte seine Urgroßmutter an. Dann warf er einen raschen Blick in die Runde, um die Reaktion der anderen abzuschätzen. Taryx wirkte nicht überrascht. Kentravyons Blick flackerte ein wenig – aber das hieß nicht viel, weil er meistens so dreinsah. Arryl allerdings schien ebenso schockiert wie Declan selbst.
»Ich schätze«, Declan sah von Maralyce zu Kentravyon und dann wieder zu ihr, »ihr schuldet uns ein paar Erklärungen.«
Maralyce zuckte die Achseln, dann erspähte sie die entfernte Gestalt auf der anderen Klippe.
»Ist das Cayal da drüben?«
»Ja.«
»Was macht er da?«
»Hoffen, denke ich«, sagte Arryl traurig.
»Worauf denn?«, fragte Maralyce und zog sich das nun trockene Hemd wieder über.
»Auf den Tod«, antwortete Kentravyon. »Was sonst?«
3
Stellan Desean, einstiger Fürst von Lebec, konnte nicht genau beziffern, wann diese Wendung der Dinge eigentlich erfolgt war, aber irgendwie steckte er nun, ohne je den Vorsatz gehegt zu haben, mitten im Kampf um die Krone. Er hatte nie beabsichtigt, sich auf ein solches Gerangel einzulassen. Ganz im Gegenteil. Bis vor Kurzem war sein Leben ganz der Bewahrung der Krone gewidmet gewesen, zuerst für seinen Freund, Cousin und König Enteny Debree, dann nach dessen Tod für seinen Sohn und rechtmäßigen Erben Mathu.
Noch vor knapp einem Jahr hätte Stellan für den König von Glaeba sein Leben hingegeben. Die Gezeiten wussten, dass er im Laufe der Jahre viel durchgemacht hatte, um Glaebas Erben
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