Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
– war Jojo gezwungen, einen Pelzmantel zu tragen. Ihre saure Miene verriet deutlich, was sie davon hielt. Sie verabscheute den Mantel fast so sehr wie die Stiefel, die sie hier anziehen musste. Vermutlich hatte sie Krämpfe in den Füßen, und unter der langen schweren Pelzjacke, die sie vor der Kälte schützte, war nicht genug Platz, um ihren Schwanz bequem unterzubringen. Aber Jelidien war ein grimmiger Ort. Obwohl dies hier der Sommer war und Lukys behauptete, es würde wärmer – was die ins Meer stürzenden Eismassen durchaus belegten –, herrschte unvorstellbar grimmige Kälte. Also bestand Declan darauf, dass sie den Pelz trug, wenn sie in ihrer Gesellschaft bleiben wollte. Die Felide änderte erneut ihre Stellung und hoffte zweifellos, dass ihre Herren und Meister allmählich genug von der wegbrechenden Küste bekamen und endlich zum Palast zurückkehrten.
Nicht dass der Palast wesentlich wärmer wäre, dachte Declan, drehte sich wieder um und betrachtete weiter den fortschreitenden Verfall des Eisschelfs. Wobei das für ihn gar nicht leicht zu ermessen war. Declan hatte Unsterblichkeit erlangt und damit zugleich die Fähigkeit verloren, extreme Temperaturen zu empfinden. Es blieb abzuwarten, was für Fähigkeiten und Wahrnehmungen er sonst noch eingebüßt hatte.
»Ich wette, sie wünscht sich zurück nach Senestra«, sagte er beiläufig zu Arryl. Das arme Geschöpf hatte ja keine andere Wahl, als den Befehlen der Gezeitenfürsten zu gehorchen. Aber auch Crasii konnten sich schließlich dem Wunschdenken hingeben.
Arryl schüttelte den Kopf und warf nur einen flüchtigen Blick auf die schlotternde Felide. »Die vermisst Senestra nicht im Geringsten.«
»Im Ernst?«
»Ich bin sicher, sie war noch nie so glücklich.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Die Erfüllung, die sie dadurch verspürt, in der Gesellschaft von echten Unsterblichen zu sein, versüßt ihr noch die härtesten Umstände.« Arryl verzog das Gesicht. »Selbst die Tortur, Stiefel tragen zu müssen. Das ist ja eben ihre Tragödie, verstehst du das denn nicht? Das ist die große Schwäche, die ihnen angezüchtet wurde.«
»Sag ihr doch mal, sie soll sich ausziehen und still stehen, bis wir hier fertig sind, wenn du Arryl nicht glaubst«, mischte sich Taryx ein und trat vor bis an die äußerste Klippenkante. Am Bruch war das Eis schroff und zackig, auch davor war es schon von Haarrissen durchzogen, die sich bald ausweiten würden, um noch mehr vom Schelf abbrechen zu lassen. Taryx musterte kurz die Bruchkante und richtete sich wieder auf. »Sie würde mit einem glückseligen Lächeln auf dem Gesicht erfrieren, wenn du es verlangst.«
Der Unsterbliche beugte sich erneut vor, betrachtete den donnernden Ozean unter ihnen und ignorierte den eisigen Wind, der ihm das schwarze Haar ins Gesicht peitschte. Er war bei Weitem nicht so mächtig wie die anderen Unsterblichen, aber sehr gut darin, den Palast instand zu halten. Taryx’ besondere Gabe war der Umgang mit Wasser. Der ganz aus Eis gefertigte Palast der unmöglichen Träume unterlag seiner Obhut und Wartung. Declan fragte sich, warum er nichts tat, um das Abbrechen des Eises zu verhindern, denn wenn es in diesem Tempo weiterging, war in wenigen Wochen der Palast selbst in Gefahr.
»Könnte knapp werden«, rief Taryx nach einer Weile, fast als habe er Declans unausgesprochene Frage gehört.
»Was meinst du?«, fragte Arryl verwundert. »Die Crasii?«
Taryx schüttelte den Kopf. »Ich meine die Flut. So manche Dinge … geschehen, wenn die Gezeiten so schnell steigen.«
Declan fürchtete sich davor nachzufragen. Aber er fragte trotzdem, wobei er deutlich spürte, wie ahnungslos er in Bezug auf Gezeitenmagie noch war. »Was für Dinge?«
»Schlimme Dinge, über die man besser nicht spricht«, rief Kentravyon in ziemlich theatralischem Ton. Wie um das Schicksal herauszufordern saß er ein paar Schritte weiter ganz vorne auf der Klippenkante und ließ die Beine über dem brodelndem Abgrund baumeln, als gäbe es keine Sorgen auf der Welt.
»Was für Dinge?«, wiederholte Declan ungeduldig. Er war mehr als genervt von diesen Unsterblichen und ihrer Marotte, auf völlig vernünftige Fragen unklare, kryptische Antworten zu geben. Warum macht die Unsterblichkeit nur alles schlimmer und nicht besser?, fragte er sich. Warum bringt sie anscheinend nichts als Zynismus und Narzissmus hervor? Wozu der ewige Sarkasmus? Warum bringt sie keine Erleuchtung? Oder Loslösung von der materiellen Welt?
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