Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
zu schützen.
All das hatte sich nun gründlich geändert. Seine frühere Lebensaufgabe, als rechte Hand seines jungen Neffen Mathu dafür zu sorgen, dass dieser zu einem würdigen Herrscher heranwuchs, war nur mehr ein ferner, fast vergessener Traum. Jaxyn Aranville hatte ihm den Mord an König Enteny angehängt und ihn erfolgreich als Hochverräter gebrandmarkt, und Stellans überstürzte Flucht aus dem Kerker kurz vor der Gerichtsverhandlung sprach nicht eben zu seinen Gunsten. Als Flüchtling und Vaterlandsverräter beteiligte er sich nun tatkräftig an einem Komplott gegen den jungen König von Glaeba – was sicherlich weit mehr nach Verrat geschmeckt hätte, wenn er nicht wüsste, dass der glaebische Herrscher nur ein Werkzeug in der Hand von raffgierigen, machthungrigen Unsterblichen war. Und um sein Land vor der Blindheit seines willensschwachen jungen Königs zu retten, stand Stellan nun hier in der Ratskammer im Palast der Königin von Caelum. Die Wandteppiche, die das dicke Gemäuer schmückten, kündeten prahlerisch von längst vergangenen Siegen über Glaeba, und er erörterte hier gerade die beste Strategie, sein Heimatland mit einer fremden Armee zu besetzen … ein Schritt, der sich aufgrund des Wetters als etwas schwierig erwies.
»Ist der See vollständig zugefroren?«, fragte der Gemahl der Königin. Lord Tyrone – oder Tryan der Teufel für alle, die etwas Ahnung von den Unsterblichen hatten – richtete seine Frage an niemand Bestimmtes. Er hatte die Königin von Glaeba geehelicht, als ihre Tochter noch als vermisst galt, weil er hoffte, so an die Krone zu gelangen. Doch nun, da Prinzessin Nyah zurück war, hatte er aufgrund der komplizierten caelischen Erbfolgeregeln keine Aussicht mehr, den Titel je legitim zu beanspruchen. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, sich aufzuführen, als ob er das Land regierte, wie Stellan mit Unbehagen feststellte.
»Noch nicht ganz«, meldete Ricard Li, der Erste Spion von Caelum, der Versammlung und trat an den Kartentisch, um die fraglichen Stellen anzuzeigen. Er trug eine mit Schaffell gefütterte Jacke, seine Hände steckten in dicken Lederhandschuhen, und sein Atem gefror beim Sprechen zu Wolken. »Das Eis hier am Ufer ist recht dünn, und an manchen Stellen fließt noch Wasser ein. Um die Dicke des Eises zu prüfen, haben wir Taucher eingesetzt. Wir haben einige von ihnen durch Unterkühlung verloren, und was die Überlebenden berichten, ist nicht ermutigend. Wenn diese Kälte weiter anhält, ist es nur eine Frage von Tagen, bis man von Cycrane bis nach Herino durchmarschieren kann.«
»Ob Jaxyn das auch bewusst ist?«, fragte Tryan. Er lehnte sich im rotledernen Thron der Königin zurück, als gehörte er ihm bereits. Im Gegensatz zum Ersten Spion war er in Hemdsärmeln, die eisige Luft kümmerte ihn nicht. Jilna, Königin von Caelum, war nirgends zu sehen. Sie hatte wieder einmal ausrichten lassen, dass sie unpässlich sei, und sich wie so oft in ihre Gemächer zurückgezogen.
Stellan fragte sich, ob ihr Gemahl ihr Drogen oder Gift verabreichte. Vielleicht keine tödlichen Dosen, nur die nötige Menge, damit sie den Unsterblichen nicht in die Quere kam, die längst ihren Palast übernommen hatten und nun im Begriff waren, die Herrschaft über das ganze Land an sich zu reißen. Wegen der unerklärlichen Krankheit der Königin herrschte in Wahrheit Tryan über Caelum. Hinter ihm standen seine Mutter und seine Schwester, sein Stiefvater und seine Stiefbrüder. Zum Glück nahmen die Stiefbrüder nicht an diesem Kriegsrat teil. Krydence und Rance waren nach Süden gezogen, um zu prüfen, wie weit sich das Eis dort am Seeufer erstreckte, und würden hoffentlich noch ein paar Tage unterwegs sein.
»Natürlich weiß er das«, sagte Syrolee. Die Großherzogin von Torfail stellte ihre Teetasse so heftig ab, dass die feine Porzellanuntertasse beinahe zerbrochen wäre und der Tee über den Tisch schwappte.
Warlock, der Crasii-Sklave, den die geheime Bruderschaft des Tarot hergeschickt hatte, um die Unsterblichen auszuspionieren, eilte von seinem Posten an der Tür herbei, um den vergossenen Tee aufzuwischen. Stellan bemühte sich, keine sichtbare Notiz von ihm zu nehmen. Die geheime Bruderschaft setzte alles daran, Amyrantha von den Unsterblichen zu befreien – daran arbeiteten sie bereits, seit die Menschen auf Amyrantha sich ihrer Gegenwart bewusst waren. Stellan selbst war zwar kein Mitglied der Bruderschaft, sympathisierte jedoch mit ihren Zielen
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