Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
Antlitz Gottes.«
Declan starrte auf die Schnitzarbeit und sah mit leichter Bestürzung, dass es sich nicht etwa um ein menschliches Gesicht handelte, sondern um einen perfekt nachgebildeten Totenschädel aus Eis. Der Gedanke, dass Kentravyon sich selbst so sah, war irritierend.
»Kommen dir noch Erinnerungen aus der Zeit, bevor du dein Gedächtnis verloren hast, Pellys?«, fragte Arryl.
Pellys schüttelte den Kopf und betrachtete den Schädel mit großer Faszination. »Nein. Das heißt, ich weiß, dass es eine Zeit davor gegeben hat. Aber ich kann mich an nichts davon erinnern. Also muss ich wohl von vorn angefangen haben. Cayal könnte das auch. Dann wäre er glücklicher.«
»Gab es da nicht noch so eine kleine Misshelligkeit, weil man dabei unweigerlich eine globale Katastrophe auslöst?«, erinnerte ihn Declan. »Hast du nicht Magreth im Ozean versenkt, als du deinen Kopf verlorst?«
Der Gezeitenfürst zuckte die Achseln. »Das ist nun mal der Preis des Friedens.«
»Das nennst du Frieden?«, fragte Declan. »Ein Haufen unschuldiger Leute haben für deinen Frieden bezahlt, Pellys. Du nicht.«
»Und wenn schon«, entgegnete Pellys ungerührt. »Sterbliche müssen sowieso sterben, Declan. Ich meine, was ist denn schon dabei, der Natur einen kleinen Schubs zu geben?« Er steckte sich den Schädel in die Tasche und lächelte sie an. »Ich seh Dingen gern beim Sterben zu.«
Pellys' fröhliche Mordmanie jagte Declan einen Schauder über den Rücken. Er machte lieber, dass er wegkam. Er wusste ohnehin nie, was er zu Pellys sagen sollte. »Na, ich geh mal Maralyce suchen und frage sie, was sie hier will.«
»Falls sie mit dir redet«, warnte Pellys. »Sie ist’ne sture alte Zicke.«
»Mit mir wird sie schon reden«, sagte Declan. »Ich gehöre zur Familie.«
Maralyce aufzuspüren erwies sich als deutlich schwieriger, als Declan angenommen hatte. Obwohl sie die Haupthalle erst vor Kurzem verlassen hatten, waren weder sein Vater noch seine Urgroßmutter irgendwo zu finden. Declan schreckte immer noch davor zurück, sie wirklich als seine Verwandten zu betrachten. Man konnte auch anfuhren, dass Lukys älter war als Maralyce, aber wenn man es mit Lebensspannen zu tun hatte, die Jahrtausende umfassten, war das chronologische Alter wohl kaum noch von großer Bedeutung.
Er hatte erwartet, Maralyce mit Lukys in dem weitläufigen Flügel anzutreffen, wo die Gästesuiten lagen. Allerdings konnte er in den höhlenartigen weißen Sälen niemanden finden bis auf die Crasii-Sklaven, die Lukys zur Bewirtschaftung des Palasts hergebracht hatte.
Jojo war es schließlich, die seine Urgroßmutter für ihn ausfindig machte. Obwohl Declan die anderen in den Gezeiten spüren konnte, fehlte ihm doch die Erfahrung, um so viele Unsterbliche am gleichen Ort zuverlässig auseinanderzuhalten oder die genauere Richtung zu benennen, aus der die Wellen ihrer Präsenz an sein Bewusstsein spülten. Aber Jojo mit ihrem feinen Feliden-Geruchssinn und ihrer Fähigkeit, einen Gezeitenfürsten noch durch Wände hindurch zu spüren, ermittelte die richtige Richtung für ihn und teilte ihm mit, dass sich zwei Unsterbliche in den Untergeschossen des Palasts befanden, und zwar ein Stück östlich von ihrem gegenwärtigen Standort in der mächtigen Eingangshalle des Palasts.
Declan befahl ihr, sich nicht vom Fleck zu rühren, und machte sich auf den Weg durch die aus Eis geschnitzten Hallen mit ihren fantastischen Bögen und unverschämt schönen polierten Eismauern, hinab in die tieferen Stockwerke des Palasts, wo er die Vorratskammern vermutete.
Das labyrinthische Kellergeschoss des Eispalasts war deutlich funktionaler ausgerichtet als die oberen Gewölbe, deren Gestaltung wohl in erster Linie den Zweck hatte, ein überwältigendes Spektakel zu liefern. Hier unten waren die Wände auch nicht auf Hochglanz poliert. Hinter jeder brennenden Fackel hatte sich eine kleine Höhlung gebildet, von den Flammen ins Eis gefräst. Alle paar Fuß bildeten Kaskaden von gefrorenen Tröpfchen einen dekorativen Fries unter jeder Fackel, denn das schmelzende Eis wurde sofort wieder hart, sobald die Tropfen der Wärme des Feuers entrannen.
Schon seit er hier in Lukys’ Eispalast am Ende der Welt angekommen war, hatte sich Declan nach dem Sinn und Zweck dieser Gigantomanie gefragt. Für einen Mann, der sich gern als Pragmatiker bezeichnete, wirkte das alles eigentümlich protzig.
Der Keller war tief. Declan stieg noch eine aus dem Eis gehauene Treppe hinab.
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