Falsch
Wissenschaftler rätseln noch mehr, als sie wissen.«
»Du bist sehr erwachsen für dein Alter«, wunderte sich Bernadette, die das junge Mädchen vom Fleck weg ungeheuer sympathisch fand. Sie konnte bisher beim besten Willen keine Behinderung feststellen. »Warum haben deine Eltern entschieden, dich nach St. Chrischona zur Schule gehen zu lassen? So wie es für mich aussieht, könntest du auch in jeder anderen Privatschule problemlos dem Unterreicht folgen.«
»Es gab keine geeigneten Hochbegabtenschulen in Italien«, erwiderte Francesca. »Das Unternehmen meines Vaters ist in der Schweiz angesiedelt, er und Professor Grasset kannten sich bereits seit vielen Jahren. Also war das Institut Peterhof die erste Wahl, als es um ein Gymnasium ging. Außerdem …« Das Gesicht des jungen Mädchens verfinsterte sich. »Es gibt Tage, da kann ich mit niemandem reden. Da kommt mir vor, alles würde sich auf mich zubewegen, mich erdrücken, mir die Luft nehmen. Dann drehen sich die Bilder im Kopf wie ein Karussell, das nicht stehenbleiben will. Ein Kaleidoskop aus Farben, Formen, glitzernden Ziffern und blitzenden Spiralen, die alles überlagern … Das sind Tage, an denen es mir nicht so gutgeht.«
»Ich verstehe«, nickte Bernadette. »Du bist hier gut aufgehoben, glaub mir«, beruhigte sie das junge Mädchen. »Woher aus Italien kommst du eigentlich genau?«
Francesca lächelte wieder. »Aus der Provinz Lucca an der Versilia, am Ligurischen Meer. Der kleine Ort heißt Capezzano Pianore, ein paar Kilometer vom Strand entfernt. Wir haben dort eine Villa im Hinterland, auf den Hängen der Berge. Da ist es nicht so heiß.«
»Das klingt wunderschön«, gab Bernadette zu. »Das Wetter hier in der Schweiz kann leider nicht mit dem italienischen konkurrieren. Ich hoffe, du hast genügend warme Pullover im Gepäck.«
»Für einen langen und kalten Winter«, bestätigte Francesca lachend. »Allerdings besuchen mich meine Eltern voraussichtlich alle zwei Wochen, dann kann mir meine Mutter immer noch etwas von zu Hause mitbringen.«
»Du bist also im Internat in St. Chrischona«, stellte Bernadette fest. »Hast du ein schönes Zimmer bekommen?«
Francesca nickte begeistert. »Man sieht weit über Basel, bis zu den schneebedeckten Bergen! Wunderschön!«
»Da hast du mehr Glück als ich«, lächelte Bernadette. »Ich habe eine kleine Dachwohnung mitten in der Stadt, mit schrägen Wänden und kleinen Fenstern. Ich komme auch nicht von hier, meine Familie lebt in München. Aber glaub mir, es hat Vorteile, im Institut zu wohnen. Man kann ungestört lernen, und ich wette, Professor Grasset hat auch eine Menge mit dir vor. Ich glaube, er hatte noch nie einen Savant auf dieser Schule und ist neugierig auf dich. Und jetzt würde ich vorschlagen, du beschäftigst dich den Rest des Nachmittags mit den Kapiteln auf meiner Liste. Wenn du mich brauchst, dann ruf einfach. Ich schau jetzt mal bei den anderen vorbei und helfe ihnen.«
Francesca nickte, schlug das erste Buch auf und vertiefte sich in die Seiten.
Als um 17 Uhr die Klasse zu Ende ging, nahm das junge Mädchen aus Italien seinen Bücherstapel, winkte Bernadette kurz zu und verschwand im Gang.
»Was meinst du zu unserer neuen Schülerin?«, fragte ihre Kollegin Bernadette, während die einem behinderten Jungen half, seine Bücher am Rollstuhl zu verstauen.
»Sie ist der erste Mensch mit einer Inselbegabung, den ich kennenlerne«, antwortete Bernadette. »Daher habe ich keine Vergleichsmöglichkeiten. Francesca macht auf den ersten Blick einen völlig normalen Eindruck. Sehr erwachsen für ihr Alter, gebildet, überaus fröhlich und aufgeweckt.« Sie schob den Rollstuhl bis zur Klassentür und sah dem Jungen nach, als er allein den Korridor entlangfuhr.
Direktor Grasset wich ihm aus, als er um die Ecke kam. Dann erblickte er Bernadette und winkte ihr zu. »Frau Bornheim! Ich wollte Sie noch kurz zu Ihren Eindrücken befragen, bevor ich mich morgen auf den Weg nach New York mache und wir uns vielleicht nicht mehr sehen. Was sagen Sie zu Francesca, unserem Neuzugang?«
»Das fragen mich in den letzten Minuten alle«, zwinkerte Bernadette ihrer Kollegin zu. Sie schilderte Grasset kurz ihre Unterhaltung mit dem jungen Mädchen aus Italien.
Der Professor hörte nachdenklich zu, bevor er nickte. »Wir dürfen uns nicht täuschen lassen, die Normalität kann ganz rasch umkippen. Jeder Savant reagiert anders, aber da es eine äußerst beschränkte Zahl von ihnen auf der ganzen
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