Falsch
hab ich eine besondere Aufgabe.«
Der stumme Junge sah Finch neugierig an.
»Lass dir einen Plan des Anwesens geben. Wie ich gehört habe, ist der Besitz riesengroß. Ich würde mich sicherer fühlen, wenn du eine Runde laufen gehst.«
Vincente lächelte verstehend, dann nickte er.
»Du musst nicht alle Zäune kontrollieren, aber Stichproben wären nett. Und nimm sicherheitshalber eine Waffe mit, die Security wird sich darum kümmern.«
Er sah zu Alfredo, der auf seine Aufgabe zu warten schien. »Die Bewachung in diesem Haus wurde von einem alten Mann organisiert und nicht von jemandem, der auf den Straßen Medellíns gelernt und überlebt hat. Egal, was wir planen und wie lange wir hierbleiben, ich will nicht noch so eine Explosion erleben.«
»Ich werde Fiona unterstützen und den Jungs auf den Zahn fühlen, bevor ich ihnen die letzten Feinheiten beibringe«, nickte der Sicario. »So, wie es aussieht, sind wir im Krieg, und da sind alle Mittel erlaubt.«
»Das erinnert mich an ein altes Sprichwort: Der Krieg ist niemandes Freund«, meinte Finch leise.
»Wir wollen nicht mit ihm befreundet sein, wir wollen ihn gewinnen«, meinte Alfredo lakonisch, nickte Fiona zu und stand auf. Er verzog etwas das Gesicht, als er den Schmerz an der Hüfte spürte. Die Wunde musste noch verheilen.
»Nichts, was nicht auszuhalten wäre«, winkte er ab, als er die forschenden Blicke von Finch und Georg Gruber sah. »Gehen wir?«
6
FRANCESCA
Institut Peterhof,
St. Chrischona, Basel/Schweiz
Francesca Di Lauro entsprach in keinem einzigen Punkt den Vorstellungen, die Bernadette sich von einem weiblichen Savant gemacht hatte. Sie war ein langhaariger, schlanker, braungebrannter Teenager, der weder dicke Brillen trug noch abwesend ins Leere starrte. Ganz im Gegenteil.
Mit aufmerksamen dunklen Augen betrachtete sie ihre Mitschüler, die Klasse und die Lehrerinnen, während ein dauerndes Lächeln um ihre Mundwinkel zu spielen schien. Es hatte keineswegs etwas mit Hochmut oder Überheblichkeit zu tun, sondern mit einer angeborenen Freundlichkeit, die Bernadette sofort an dem jungen Mädchen faszinierte. Sie ging zu ihr hinüber und streckte ihre Hand aus.
»Hallo! Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Bernadette Bornheim, deine Lehrerin«, begrüßte sie Francesca, »zumindest für die nächsten Tage, bis Frau Wiesner wieder auf den Beinen ist. Und ich wollte mich gleich bei dir für mein Italienisch entschuldigen …«
Das junge Mädchen schüttelte Bernadette die Hand und strahlte sie an. »Wollen wir in Deutsch weiterreden?«, fragte sie bereitwillig und wechselte in ein perfektes Deutsch, in dem Bernadette keinen noch so kleinen italienischen Akzent finden konnte. »Direktor Grasset hat mir gestern bereits von Ihnen erzählt. Er meint, Sie seien eine seiner vielversprechendsten Nachwuchslehrerinnen.«
»Er ist manchmal ein wenig französisch-überschwänglich«, wiegelte Bernadette ab, »aber ein genialer Wissenschaftler, um den uns selbst amerikanische Universitäten beneiden. Ich muss mich bei ihm für die Einschätzung bedanken, wenn er wieder aus New York zurück ist.« Damit legte sie einen Stapel Bücher vor Francesca auf das Pult. »Du bist zwei Wochen nach allen anderen in dieses Schuljahr eingestiegen«, meinte sie. »Ich werde dir daher ein wenig Nachlernen nicht ersparen können. Hier habe ich dir eine Liste mit Kapiteln in den verschiedenen Fächern zusammengestellt, die bereits durchgenommen wurden. Das heißt, die anderen beherrschen den Stoff bereits.« Sie zwinkerte Francesca zu. »Mehr oder weniger.«
»Sicher kein Problem«, entgegnete Francesca, »ich merke mir Dinge leicht.«
»Davon hat mir Professor Grasset berichtet. Beneidenswert.«
»Es hat auch seine Nachteile«, merkte Francesca wie beiläufig an und überflog rasch die Liste. »Ich kann nichts vergessen. Es gibt keinen Filter, der darüber entscheidet, was ich mir merken muss, merken kann und was ich mir nicht merken muss.«
»Du weißt sehr viel über deine …« Bernadette stockte. Zum ersten Mal, seit sie in der Schule in St. Chrischona war, fand sie nicht die richtigen Worte.
Francesca lächelte nachsichtig. »Ich weiß, es ist schwierig, einen Begriff dafür zu finden. Es ist keine Krankheit, eher ein Ausnahmezustand, eine Abnormalität. Als ich erfahren habe, dass ich ein Savant bin, an dem Inselbegabungssyndrom leide, habe ich alles gelesen, was dazu publiziert worden war. Doch das ist bis jetzt nicht allzu viel. Die
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