Falsch
über den Zettel, und der alte Bibliothekar übersetzte flüssig:
Mein gEschätztEr Freund, die Zeit iSt gekommen,
unseRe Aufgabe zu ErFüllen, wie vor laNgEm Geschworen.
Wenn Du diese Nachricht erhältst, bin ich wahrscheinlich
bereits tot und lege die VErantwortunG in Deine Hände,
gemeinsam mit FrAnz und Wilhelm die Schuld einzufordern.
Alle wurden Verständigt, jeder erhIelt das vereinbaRte Zeichen.
Ich bete nur, dass DU noch Am LebEn Bist.
Wenn nicht, dann ist alles verloren.
Möge Gott Euch helfen und unser aller Seelen gnädig sein.
Vincente sah den alten Mann verständnislos an. Don Luis betrachtete noch immer das kleine Stück Papier, als könne er ihm sein Geheimnis entreißen. Die Zigarette lag unbeachtet im Aschenbecher und gloste vor sich hin. Ein dünner Rauchfaden stieg auf, wand sich wie eine Schlange zu unhörbaren Flötentönen nach oben und verschwand schließlich aus dem Lichtkegel der Lampe.
»Es tut mir leid, aber mehr kann ich dir dazu nicht sagen.« Don Luis hustete wieder und reichte den Zettel nach einem abschließenden Blick zurück an Vincente. »Einige der Buchstaben sind falsch gesetzt, da hat jemand die Groß- und Kleinschreibung wohl nicht so genau genommen. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was diese Nachricht bedeuten soll.«
Der Junge schien enttäuscht. Dann überlegte er kurz und machte das Zeichen für schreiben.
»Ich soll dir den übersetzten Text aufschreiben?«, erkundigte sich der Bibliothekar, und Vincente nickte heftig.
Zehn Minuten später war er wieder auf dem Weg ins Stadtzentrum zurück. Er lief seinen üblichen Rhythmus, den er stundenlang durchhalten konnte, selbst in den Hügeln von Medellín.
Seine Gedanken aber kreisten um die geheimnisvollen neun Zeilen und ihren Empfänger.
Je länger er lief und je mehr er über alles nachdachte, umso fester stand sein Entschluss. Er musste jenen Mann finden, der die Schuld einfordern sollte. Vielleicht könnte Alfredo ihm dabei helfen. Sein Instinkt sagte Vincente, dass sie damit vielleicht eine ganze Menge Geld verdienen könnten.
Aber ihn trieb vor allem eines an: Er wollte die Bedeutung des seltsamen Textes erfahren.
Das vor allem.
Carrera 2 E
Bogotá/Kolumbien
Die Nadel des Kühlwasserthermometers stand verdächtig nahe am roten Feld, als Georg Gruber den Verkehr im Zentrum Bogotás hinter sich gebracht hatte und mit seinem roten Pick-up endlich in die Carrera 2 E einbog. Die Wohnung der Grubers lag im Süden der Stadt, in der Nähe des Hospitals La Victoria und unweit einer privaten Schule, in die seine beiden Töchter gingen. Die Talstation der Seilbahn auf den Montserrat befand sich direkt nebenan, was Georg zwar ersparte, seinen Besuchern die Adresse zu erklären, andererseits jedoch eine regen Busverkehr mit regelmäßigen Staus mit sich brachte.
So auch heute. Georg Gruber trommelte nervös aufs Lenkrad, als vor ihm Touristenbusse ihre Fracht ausspien und sich nicht die Mühe machten, auf den großen Parkplatz der Talstation vorzufahren, sondern wieder einmal den gesamten Verkehr im Viertel zum Erliegen brachten.
Der Brief seines Vaters lag auf dem Nebensitz. Georg hatte ihn eingesteckt und mitgenommen, nachdem er ihn ein erstes Mal gelesen und dann rasch sein Büro verlassen hatte. Das gelbliche Papier mit den dünnen blauen Linien erinnerte ihn an seine Schulzeit, der Geruch an alte Akten.
Da der Bus sich noch immer nicht bewegte und die Einfahrt zu seiner Garage damit in unerreichbarer Ferne lag, griff Georg zu dem einzelnen Blatt und überflog erneut die Zeilen. Irgendwie wurde er nicht wirklich gescheit aus dem Inhalt, und das machte ihn noch nervöser, als ihn der Anruf seiner Frau sowieso bereits gemacht hatte. Das Schreiben trug kein Datum, dafür ein weiteres Siegel in der rechten oberen Ecke. Ad Astra .
Na ja, dachte Georg und zuckte mit den Schultern. Etwas altmodisch, aber es war eben eine andere Generation gewesen.
Mein lieber Sohn,
wenn Du diese Zeilen liest, bin ich tot, und die Taube ist tatsächlich in unserer Wohnung gelandet, wie ein geheimnisvoller Sendbote aus der Vergangenheit. Wie gerne wäre ich dabei gewesen! Ein Traum wäre endlich wahr geworden, der Lohn der Geduld und des Wartens hätte mich für vieles im Leben entschädigt.
Aber das wirst Du selbst sehr schnell merken.
Heute, da ich diesen Brief schreibe, bist Du noch ein Kind, klein und unschuldig, hineingeboren in eine Welt, die einmal die Deine sein wird und nie die meine war. Wenn Dich das Zeichen
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