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Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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jemanden finden, der Deutsch spricht und es dir richtig übersetzen kann. Willst du das?«
    Vincente nickte heftig.
    »Lass mich kurz nachdenken.« Die Frau runzelte die Stirn und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte mit den Tintenflecken. Draußen brummte der Verkehr von Medellín, und eine Fliege summte immer wieder gegen die gesprungenen Fensterscheiben.
    Dann griff sie zum Telefon und wählte eine Nummer, die sie auswendig kannte.
    Die Straße war so schmal und ging so steil bergauf, dass selbst die Busse nicht weiterfahren konnten. Sogar Vincente hatte Mühe, sein Lauftempo einzuhalten. Immer wieder sah er auf den Zettel mit der Adresse, den ihm seine Lehrerin mit auf den Weg gegeben hatte. Zweimal musste er Passanten um Hilfe bitten, zeigte ihnen das kleine Blatt mit Namen und Anschrift, weil die Straßenschilder fehlten und er sich in diesem Teil der Stadt nicht so gut auskannte.
    Dann hatte er endlich sein Ziel erreicht. Das gedrungene dunkle Häuschen in einem der armen, höher gelegenen Stadtteile Medellíns stand etwas zurückversetzt in einem kleinen Garten, und Vincente wäre fast daran vorbeigelaufen. Señora Rosaria hatte etwas von einer Bibliothek für Kinder gesagt, aber das hier sah ganz und gar nicht danach aus. Eher wie ein in die Jahre gekommenes Hexenhaus aus einem Märchen.
    Der Junge stieß entschlossen die schief in den Angeln hängende Gartentür auf, durchquerte die halb verwilderte Anlage und klingelte. Nach wenigen Augenblicken öffnete ihm ein kleines Mädchen und schaute ihn mit großen Knopfaugen fragend an. Sie mochte vielleicht acht Jahre alt sein, und hinter ihr drängten sich Dutzende Kinder, die ihm ebenfalls neugierig entgegenblickten. Vincente lächelte und zeigte dem Mädchen den Zettel mit der Adresse und dem Namen, dem ihm seine Lehrerin mitgegeben hatte: Luis Angel. Die Kleine nickte nur stumm, drehte sich um und trippelte voran, eine steile Treppe hinauf und noch eine, vorbei an Bücherregalen und kleinen, bunten Sitzecken, die aus Kissen am Boden gebildet wurden. Oben angekommen, klopfte sie an eine schmale Tür, kicherte und lief dann sofort wieder hinunter.
    Vincente sah ihr nach, zuckte mit den Schultern und trat ein, in ein niedriges, dunkles Zimmer, das nach Papier und Zigaretten roch. Links neben dem Eingang, hinter einem massigen Holztisch, saß ein älterer Mann, zusammengesunken und wie von einer schweren Krankheit gezeichnet.
    » Hola, Vincente«, begrüßte ihn Don Luis leise, und ein Lächeln huschte über das vernarbte Gesicht. »Ich habe dich erst später erwartet. Du warst rasch hier.« Er betrachtete den dünnen Jungen, der fast mit seinem Kopf an die Decke stieß. »Setz dich hin, du bist zu groß für dieses Zimmer.« Er lachte leise auf wie ein kleines Kind. »Ich habe Muskelschwund und schrumpfe in mich zusammen. Da braucht man nicht mehr so viel Platz.«
    Die Wände des Raumes waren bis zur Decke mit Bücherregalen vollgestellt. Die Bände standen dicht gedrängt, es gab keinen freien Platz mehr, nicht einmal für ein einziges weiteres Buch.
    Don Luis lächelte, als er Vincente erstaunt die Regale mustern sah. »Du hast bestimmt noch nie so viele Bücher auf einmal gesehen«, stieß er hervor, und ein Husten schüttelte seinen Körper. »Ich habe sie seit langen Jahren gesammelt, viele haben mir dabei geholfen, selbst Menschen aus Europa und aus Amerika. Es sind Bücher für Kinder und über Kinder, aus aller Welt zusammengetragen. Das älteste ist fast dreihundert Jahre alt.« Er zündete sich umständlich eine Zigarette an und pickte mit dem Finger einen Tabakkrümel von seiner Zunge. »Aber du bist wegen etwas ganz anderem hier«, sagte er dann und streckte seine Hand aus.
    Als der Zettel vor ihm auf der Tischplatte lag, holte Don Luis aus einer der Laden ein altmodisches Vergrößerungsglas hervor und zog die Lampe näher. Seine Großmutter war Deutsche gewesen, hatte eigentlich Engel geheißen und war aus dem Ruhrgebiet 1901 nach Kolumbien ausgewandert. Bei der Ankunft in Bogotá war zwar aus Engel Angel geworden, Deutsch aber war auch zu Hause in der Fremde immer wie selbstverständlich gesprochen worden.
    Don Luis murmelte vor sich hin, während er versuchte, die verblasste Schrift zu entziffern. »Neun Zeilen, eng beschrieben … man wollte wohl Platz sparen … keine Absätze … eine markante Handschrift … eindeutig die eines Mannes … lass uns mal sehen, was er schreibt.«
    Das Vergrößerungsglas begann seinen verschlungenen Weg

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