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Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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»Ist das erste Mal, dass ich eine sehe.« Als er Vincentes verständnislosen Blick bemerkte, kramte er aus seiner Erinnerung alles zusammen, was er jemals über die Brieftaubenzucht gelesen hatte. Einer der Freier seiner Mutter hatte ihm einmal ein Buch über Vögel mitgebracht, wohl um ihn zu beschäftigen, während er mit ihr schlief. »Früher, vor den Zeiten der Flugpost, wurden auf diese Art viele Nachrichten über weite Strecken transportiert. Man brachte die Vögel an ihren Abflugort, und sie fanden immer wieder nach Hause, auch über Tausende von Kilometern. Also muss diese Taube hier etwas Besonderes sein. Sie ist nicht in ihren Taubenschlag geflogen, sondern an einen vorher angelernten Ort. Ich wusste nicht, dass es möglich ist, die Tiere so zu dressieren. Aber warum hierher?« Er kratzte sich am Kinn, und sein Dreitagebart machte ein Geräusch, das die Taube irritierte. »Oder hat sie sich nur verflogen und wollte eigentlich irgendwo anders hin? Vielleicht war sie erschöpft und machte einen Zwischenlandung …«
    Vincente streckte vorsichtig seine Hand aus und ergriff den Vogel mit einer geschickten Bewegung, die ihm Alfredo nicht zugetraut hätte. Er zog die Nachricht vorsichtig vom Fuß und reichte sie an den Sicario weiter. Dann setzte er die Brieftaube wieder ab, und sie pickte weiter in den Brotkrümeln, als sei nichts geschehen.
    Alfredo spürte den neugierigen Blick des Jungen, der zwischen dem kleinen Stück Papier und seinem Boss hin und her ging. Also entfaltete er den Zettel, der eng beschrieben war. Allerdings in einer fremden Sprache, die Alfredo nicht kannte.
    »Ich habe keine Ahnung, was hier steht«, meinte er achselzuckend. »Ist ja auch egal, es ist sowieso nicht für uns bestimmt.« Entschieden knüllte er den Zettel zusammen und warf ihn achtlos auf den Tisch. Dann ging er zum Schrank, zog seine Beretta hervor und steckte sie in den Gürtel. »Ich bin für den Rest des Tages unterwegs. Geh einkaufen und koch was zum Abendessen. Und schaff die Taube von hier weg, sie nervt.« Er legte eine Handvoll Pesos auf den Tisch und nickte Vincente zu, bevor er seinen Kopf durch die Tür schob, sich davon überzeugte, dass der Flur leer war, und rasch hinausschlüpfte.
    Der Junge strich dem Vogel noch einmal sanft übers Gefieder. Es war, als genieße die Taube die Berührung. Sie hielt ganz still, und Vincente fragte sich, ob sie wusste, dass ihre Aufgabe nun erfüllt war. Dann gab er sich einen Ruck und ging hinüber zum Tisch, hob den Zettel auf und strich ihn vorsichtig glatt. Die Handschrift war verblasst, aber gestochen scharf und gleichmäßig. Die Zeilen schienen bereits vor langer Zeit geschrieben worden zu sein, die ehemals wohl leuchtend blaue Tinte war ausgeblichen, die Farbe nun eher ein lichtes Petrol. Vincente steckte den Zettel in seine Brusttasche, nahm die Pesos und verschloss nach einem letzten Blick auf die Taube sorgfältig die Türe, als er die Wohnung verließ.
    Dann lief er los.
    Als er zwanzig Minuten später das Klassenzimmer betrat, blickte er sich schüchtern um. Die Tür hatte offen gestanden und die Frau mit den kurzen, dunkelbraunen Haaren und dem bunten Kleid, die am Tisch saß und Arbeiten korrigierte, hatte ihn nicht kommen hören. Erst als er vor ihr stand, hob sie den Kopf, sah ihn und erschrak. Sie wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch und kniff die Augen zusammen, wie um sich besser erinnern zu können. Dann lächelte sie.
    » Hola Vincente! Was machst du hier? Ich habe dich ja schon Jahre nicht mehr gesehen. Ich hätte mir gewünscht, du wärst bei uns geblieben.«
    Der Junge hielt den Kopf gesenkt und nickte, während seine Augen feucht wurden. Das hatte er befürchtet. Er hatte vier glückliche Jahre in der Behindertenschule der Padres verlebt, die besten Jahre seines Lebens, bevor …
    Seine ehemalige Lehrerin riss ihn aus seinen Erinnerungen. »Du siehst nicht gut aus, mein Junge, so dünn! Willst du zur Essensausgabe und dir einen Teller Suppe holen? Soll ich Pater Bonifacio Bescheid geben?« Ihre Hand schwebte bereits über dem Telefonhörer, aber Vincente schluckte und schüttelte energisch den Kopf. Dann griff er rasch in seine Brusttasche, zog den Zettel heraus und reichte ihn über den Tisch.
    Die Lehrerin strich behutsam über das dünne Blatt Papier und betrachtete aufmerksam die verblasste Schrift. »Das ist deutsch, Vincente. Ich verstehe es leider nicht, aber ich erkenne einige Worte, wie hier ›Aufgabe‹ oder ›Gott‹. Du musst

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