Falsch
erreicht, dann werde ich wahrscheinlich nicht mehr da sein, Du selbst bist vielleicht verheiratet, hast Kinder oder stehst gar schon am Ende Deines Weges.
Denn niemand kennt den Zeitpunkt.
Wir haben geschworen, die Entscheidung in Pauls Hände zu legen. Er allein bestimmt darüber, wann er oder seine Kinder das Zeichen an die anderen aussenden, an Wilhelm, Richard und mich. Du musst wissen, wir waren unzertrennlich in der schwierigsten Zeit unseres Lebens, Freunde in jenen Jahren, in denen die Welt im Wahnsinn versank. Damals nannten uns die anderen nur »die vier Musketiere«. Wenn sie gewusst hätten … vielleicht hätten sie uns dann »die vier Reiter der Apokalypse« genannt.
Ich werde mein restliches Leben lang auf diese Taube warten, auf das Zeichen, den Ring mit den alten Symbolen. Sollte es mir zu Lebzeiten nicht vergönnt sein, dann wirst Du an meine Stelle treten. Und ich weiß jetzt bereits, dass Du Deine Aufgabe einmal ganz in meinem Sinne erfüllen wirst.
Nimm der Taube ihr Zeichen ab und bewahre es sorgfältig. Wilhelm und Richard werden Dich innerhalb weniger Tage kontaktieren, sie oder ihre Kinder. Sie wissen, was zu tun ist. Aber sie brauchen Dich dazu, Dich und den Ring.
Er wird Dein Leben verändern, in dramatischer Weise, für immer. Es tut mir leid.
Sollte es einen Gott geben, dann möge er Dich beschützen, mein Sohn. Sollte es keinen geben, dann wirst Du selbst dafür sorgen müssen, dass Du am Leben bleibst. Ich für meinen Teil habe meinen Glauben lange schon verloren. Nur eines tröstet mich – wenn es Gott nicht gibt, dann gibt es auch keinen Teufel.
Verzeih mir, Georg. Nichts wird mehr sein, wie es war.
Dein Dich liebender Vater.
Der Schnörkel am Ende des Briefes war unleserlich. Einige Flecken verwaschener Tinte ließen Georg vermuten, dass sein Vater geweint hatte, als er den Brief beendete.
Ein Hupen schreckte ihn auf. Der Bus war weitergefahren, der Weg zu seiner Garage frei und die Kolonne hinter ihm ungeduldig. Georg ließ das Blatt auf den Beifahrersitz fallen und startete durch.
Wenige Minuten später stand er seiner Frau gegenüber, die ihm die Haustür geöffnet hatte und ihn nun vorwurfsvoll ansah. »Das hat aber lange gedauert«, murmelte sie, und Georg konnte die Angst in ihren Augen lesen. »Der verdammte Vogel sitzt immer noch da und denkt nicht daran, zu verschwinden.«
Er nickte und schob sie beiseite. Auf seinem Weg in den Salon holte er eine Schale mit Wasser aus der Küche und eine Handvoll getrockneten Mais aus der Speisekammer. Er hatte zwar keine Ahnung, wie man mit einer Brieftaube umging, aber Futter könnte schon einmal nicht schaden, dachte er sich. Es ging um den Ring, und dazu musste er den Vogel zu fassen bekommen.
Im Salon standen seine beiden Töchter auf Zehenspitzen stumm vor dem hohen Kasten und schauten neugierig zu, wie die Taube weit oben hin und her wanderte und dabei leise gurrte.
»Geht auf eure Zimmer«, sagte Georg bestimmt, während er die Schüssel auf den Tisch stellte.
»Können wir die Taube behalten?«, piepste Julia, die Jüngere der beiden. »Biiiitte, Papa, sie ist so schön!«
»Ich glaube nicht«, kam ihm seine Frau zuvor und schob die beiden Mädchen sanft, aber bestimmt aus dem Salon.
Das Geräusch der Maiskörner, die Georg auf die Tischplatte rieseln ließ, lockte die Taube sofort von ihrem luftigen Platz auf dem Schrank. Sie segelte elegant durch den Raum, landete zielgenau und begann sofort auf die gelben Körner einzupicken.
»Dachte ich es mir doch«, murmelte Georg und war etwas unschlüssig, wie er nun weiter vorgehen sollte. Er streckte vorsichtig die Hand aus, aber der Vogel ließ sich dadurch nicht beunruhigen und fraß weiter. So strich er der Taube übers Gefieder und war überrascht, wie zart und weich die Federn waren. Sein Blick fiel auf den Ring, der mit einer Art Klemme am Bein befestigt war. Nach einer kurzen Überlegung zog er sein Taschenmesser und klappte die kleine Klinge auf. Dann griff er beherzt zu, befreite die Taube, die völlig still hielt, geschickt von dem Ring und setzte sie anschließend wieder zurück auf die Tischplatte.
Er war selbst erstaunt, wie schnell und unkompliziert die ganze Aktion vor sich gegangen war.
»Hast du …?« Seine Frau betrat wieder den Raum, schloss die schwere Tür zum Flur hinter sich und lehnte sich dagegen.
Als Antwort legte Georg den Ring auf die Tischplatte. Die Brieftaube pickte weiter nach den Maiskörnern. »Ich habe keine Ahnung, was das soll, Maria«,
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