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Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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Das ist aber eine Übersetzung aus dem Deutschen. Als ich in dieses Land gekommen bin, vor langer Zeit, da habe ich mich angepasst, weil niemand meinen richtigen Namen aussprechen konnte. Ich heiße eigentlich Ernst Böttcher. Ich bin es, an den die Nachricht geschickt wurde. Ich habe vor deinem Freund Alfredo in der Wohnung gewohnt, bevor ich ins Gartenhaus gezogen bin.«
    Vincente sah den alten Mann erstaunt an. Dann begann er zu begreifen.
    »Ja, mein junger Buccaneer, du hast am richtigen Piratenschiff angeheuert. Und jetzt ist dank dir der Moment gekommen, auf den ich bereits mein ganzes Leben lang gewartet habe.«

10. November 1917,
Ostsee/südlich der Insel Gotland
    Es war einer jener gefürchteten Winterstürme, die in diesem Jahr zeitiger als üblich über die Ostsee fegten und meterhohe Wellen auftürmten. Die Wolken jagten tief, aus Norden kommend, über das aufgewühlte Wasser. Zur schlechten Sicht kamen die Minenteppiche, die von der russischen Marine in der Ostsee gelegt worden waren und die sich immer wieder aus der Verankerung rissen, abtrieben und so jeden Versuch einer Lokalisierung zunichtemachten.
    Samuel Kronstein und die vier Männer in seiner Begleitung waren einer Hölle entkommen, um direkt in die nächste zu stolpern.
    Obwohl es Mittag war, schien vor den Luken der Jacht »Marquise« die Nacht hereinzubrechen. Schwarze Wolken verdunkelten den Himmel, Schneeschauer trieben waagerecht über die Wellen. Der Wind heulte um die Aufbauten des 30-Meter-Schiffes, zerrte an den Tauen, schäumte die Gischt auf und schleuderte sie übers Deck.
    Im Salon hatten sich die Passagiere, so gut es ging, zwischen Bänken und Tischen verkeilt, um von den Schiffsbewegungen nicht durch den Raum geschleudert zu werden. Zwei der jungen Männer beteten, einer weinte still vor sich hin. Solowjov hatte die Hand auf das Foto einer kleinen Ikone gelegt und konnte sich nicht entscheiden, ob ihm einfach nur schlecht oder zum Heulen war. Keiner der vier war jemals zur See gefahren.
    Samuel Kronstein hatte die Augen geschlossen, ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.
    »Haben Sie keine Angst vor dem Tod, Exzellenz?«, fragte Solowjov, nahm seine Nickelbrille ab und rieb sich müde über die Augen. Das Schiff ächzte unter den Brechern, die immer wieder von Norden her das Deck überfluteten. Die Petroleumlampen im Salon schwankten wie Betrunkene nach einer durchzechten Nacht.
    »Nein, schon lange nicht mehr«, gab Kronstein nachdenklich zurück. »Je älter man wird, umso vertrauter wird einem das Ende dieses Lebens. Es ist eine Annäherung auf Raten, müssen Sie wissen. Irgendwann wird einem bewusst, dass der Weg nicht ewig so weitergehen kann. Plato hat vor langer Zeit gesagt: ›Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen‹, und er hatte recht. Es war wie eine Prophezeiung. Dieser Krieg dauert nun bereits mehr als drei Jahre, und er ist noch lange nicht vorbei. Aber wir leben noch.«
    Solowjov nickte düster. »Ja, wir leben noch …«, murmelte er.
    Ein Blitz erhellte die Welt vor den Bullaugen, Sekunden später kam der Donnerschlag, und alle zuckten zusammen.
    »Ich kenne gar nicht so viele Gebete, wie ich nun gern beten würde«, stieß der junge Mann hervor, und Kronstein öffnete die Augen. Er sah die Angst in den Gesichtern seiner Begleiter.
    »Der Tod wartet auf nichts und niemanden«, sagte der alte Mann mit fester Stimme, »aber unsere Zeit ist noch nicht gekommen. Wir haben noch eine Aufgabe zu erfüllen.«
    Solowjov zuckte die Schultern. »Oder auch nicht. Bakunin starb in Bern, Turgenjew in Paris, und wie es aussieht, sterben wir im Niemandsland. Man wird uns vergessen, das Meer wird unser Grab. Keine Namen, keinen Stein. Wir werden spurlos verschwinden.«
    Die »Marquise« krängte auf die andere Seite, legte sich gegen den Wind, als wolle sie dem Sturm trotzen, und fiel dann in ein tiefes Wellental, auf dessen Boden sie krachend aufschlug. Eines der Bullaugen sprang auf, und eine Fontäne Wasser schoss wie eine fauchende Schlange in den Salon, der binnen weniger Augenblicke durchnässt wurde. Solowjov stürzte zu der Luke, schlug sie zu und verriegelte sie wieder. Dann kehrte er zurück auf seinen Platz und stützte den Kopf in die Hände.
    »Wir werden nicht untergehen«, meinte Kronstein nur ruhig, als sei nichts gewesen. »Dieses Schiff ist das seetüchtigste, das ich finden konnte, und der Kapitän der beste, der für Geld zu haben war. Er kennt die Ostsee zwischen St. Petersburg und

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