Falsch
Kanonen!«, kreischte er und flatterte auf das flache Dach, wo er sich wie auf einem Ausguck niederließ, aber zwischen den Blumentöpfen etwas deplatziert aussah.
»Gib Ruhe, Sparrow!«, rief ihm Botero nach.
» Captain Jack Sparrow«, schallte es von oben.
»Du musst wissen, dass ich mich seit langem fast ausschließlich mit ihm unterhalten habe«, stellte Botero fest. »Deswegen plaudert er auch so gern.«
Dann wandte er sich wieder den Zeilen auf Deutsch zu. »Du hast das Dokument also übersetzen lassen.« Es war eine Feststellung, und der alte Mann hatte es wie zu sich selbst gesagt. Er schien angestrengt zu überlegen.
Vincente schrieb ein paar Zeilen auf das Blatt, das nun wie ein überfüllter Notizzettel aussah.
»Ein Bibliothekar, so, so«, murmelte Botero geistesabwesend. »Was hat er zu den Zeilen und den seltsamen Großbuchstaben gemeint?«
Ein Kopfschütteln war die einzige Antwort Vincentes.
»Dabei ist es so einfach, wenn man weiß, wie man es lesen soll«, flüsterte der alte Mann und kicherte. »Wer sich wie ich jahrzehntelang mit Schatzkarten und den Blaupausen von Schiffsplänen in Archiven beschäftigt hat, der sieht die Dinge mit anderen Augen. Aber gut …« Er fixierte Vincente. »Mit wem hast du außer Alfredo und dem Bibliothekar noch über die Brieftaube und die Mitteilung gesprochen?«
Der Junge schüttelte ein weiteres Mal den Kopf. Doch dann erinnerte er sich an seine Lehrerin, die ihn an Don Pedro weiterempfohlen hatte, und machte eine Notiz.
Botero las sie und schien zufrieden. Er stand auf, klemmte sich das Buch unter den Arm und ging zurück ins Haus. Sparrow sah ihm interessiert nach, startete von der Dachkante und segelte dann mit einem eleganten Schwung durch die Eingangstür.
Vincente wartete. Der alte Mann hatte seine Frage noch immer nicht beantwortet. Er war der Lösung keinen Schritt näher gekommen.
Nachdem weder der kleine Papagei noch Señor Botero wiederauftauchten, machte sich Vincente auf den Weg nach drinnen, durch den furchtbaren Vorraum, in das Zimmer mit der großen schwarzen Piratenflagge. Er fand den alten Mann in seinem Fauteuil sitzend und vor sich hin starrend. Das kleine Papier hielt er fest in seiner Hand. Sparrow saß auf seinem Stammplatz und schaukelte vergnügt auf dem Seil, das quer durch den Raum gespannt war.
Das Skelett tanzte wieder.
Doch der Raum hatte für Vincente viel von seiner Bedrohlichkeit verloren. Botero mochte zwar eine ausgeprägte Vorliebe für Piraten haben, aber er war keineswegs der verrückte Alte, der seine Besucher enthauptete. Das redete sich der Junge zumindest immer wieder ein, während er aus den Augenwinkeln ab und zu einen Blick auf die Figur im Lehnsessel warf, die sich jedoch nicht rührte und eingeschlafen zu sein schien.
Nachdem er einige Minuten gewartet hatte, fasste er sich ein Herz und begann ziellos durch die Ansammlung von Antiquitäten und Andenken zu wandern. Er blieb vor den vergilbten Karten von Tortuga und Hispaniola stehen, bewunderte Säbel und Entermesser, einen großen Kompass, dessen Windrose unter Glas wie ein sorgfältig gemaltes Gemälde aussah. In einer Ecke standen einige kleine Kisten übereinandergestapelt, mit Tragegriffen an den Seiten, kunstvoll verziert. Daran lehnte ein altes, zerbrochenes Steuerrad, und Vincente nahm an, dass es sicher von einem berühmten Piratenschiff stammte, das in der Karibik auf Grund gelaufen oder in einer Schlacht untergegangen war.
Es war ihm, als könnte er das Meer rauschen hören, den Pulverdampf riechen und die schweren Kanonenkugeln spüren, die in das Holz einschlugen.
»Es war eine Zeit von legendären Persönlichkeiten, die man bis heute kennt. Sir Francis Drake, Sir Henry Morgan, Calico Jack Rackham, William Kidd und wie sie alle geheißen haben«, ertönte da die Stimme aus dem Lehnsessel, voll und kräftig. »Manche waren erst Piraten, wechselten dann die Seiten und jagten ihre ehemaligen Kumpane im Auftrag der Krone. Andere wieder hielten einen offiziellen Kaperbrief in Händen und wurden zu Piraten der Könige. Die Karibik ist noch heute voll mit ihren Geschichten, von Port Royal bis nach Cartagena.« Señor Botero winkte Vincente zu sich. »Aber du bist nicht wegen der alten Abenteurer zu mir gekommen. Du suchst den Empfänger dieser Mitteilung, nicht wahr?«
Der Junge nickte eifrig.
»Ich habe darüber nachgedacht und bin zu einem Entschluss gekommen. Ich werde dich ins Vertrauen ziehen. Mein vollständiger Name ist Ernesto Botero.
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