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Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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Vorhänge machten selbst lange Fahrten erträglich. Beheizt und mit Petroleumlampen aus Messing beleuchtet, boten die neuen Wagen aus Metall einen wesentlich höheren Komfort als die alten Wagen in Holzbauweise. Dazu kam, dass der dunkelrote Speisewagen, der die erste von der zweiten Klasse trennte, unmittelbar an ihren Waggon anschloss. Wie der Kellner bei einem kurzen Besuch betont hatte, würde man die Speisen gern auch im Abteil servieren, wenn dies gewünscht werde.
    Pjotr Solowjov schlief seit der Abfahrt des Zuges in Frankfurt am Main tief und fest. Kronstein ertappte sich dabei, den jungen Russen um seine Unbekümmertheit und seinen politischen Idealismus zu beneiden. War mit der stetig anwachsenden Zahl an Jahren bei ihm nicht auch der Grad der Desillusionierung gestiegen? Woran glaubte er, Samuel Kronstein, im Alter eigentlich noch? An eine politische Strömung? Ganz sicher nicht. Die Monarchien hatten sich in dieser Form selbst überlebt, egal ob in Russland, im Deutschen Reich oder in Österreich-Ungarn. Dieser Krieg würde einen Wechsel bringen, eine schmerzhafte Zäsur, eine Neugeburt Europas.
    Es war Zeit, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, um in der Welle der Veränderungen nicht unterzugehen.
    Kronsteins Blick schwenkte vom schlafenden Solowjov zu den anderen drei Männern seiner Begleitung, die aus Koffern einen provisorischen Tisch in der Mitte des Abteils errichtet hatten und Karten spielten. Seit dem kurzen Aufenthalt in Lübeck hatte er den jungen Revolutionär Solowjov mit seiner ständig schmutzigen Nickelbrille ins Herz geschlossen. Sie hatten sich am Abend lange unterhalten und diskutiert, der Intellektuelle, der vor Begeisterung für die neue Arbeiterklasse überschäumte, und der alte jüdische Juwelier des Zaren, der seine Illusionen schon lange verloren hatte. Solowjov trug sein Herz auf der Zunge. Kronstein lächelte nachsichtig, wenn er an die Diskussion mit dem jungen Idealisten dachte.
    Die anderen drei Männer waren reservierter, ihr Denken einfacher und ihr Horizont wohl auch begrenzter als der Solowjovs. Wie Kronstein erfahren hatte, waren sie vor wenigen Tagen zum ersten Mal aus der Provinz nach St. Petersburg gekommen. Die politischen Ereignisse, die Unzufriedenheit und die schiere Not der Bauern hatten sie aus einem kleinen Nest in die große Stadt des Zaren gespült. Und nun? Das Schicksal hatte sie in einen Zug gesetzt, in einem fremden Land, auf einer Reise mit unbekanntem Ziel.
    Wer von ihnen würde wohl nach Russland zurückkehren?, fragte sich Kronstein. Er selbst wusste, dass es für ihn keine Heimkehr mehr geben würde. Aber damit hatte er sich längst abgefunden, und der Gedanke belastete ihn nicht.
    Der Regen hatte nachgelassen, die Landschaft vor dem Fenster war hügelig und freundlich, trotz des grauen Herbstwetters. Zur Linken konnte man die Ausläufer des Schwarzwalds sehen, rechts lag das Rheintal mit seinen fruchtbaren Ebenen. Kronstein erkannte die Rauchsäulen von Kartoffelfeuern in der Ferne, während vereinzelte Dampfschwaden der Lokomotive wie Nebelfetzen vorüberhuschten.
    Der Bahnhof von Baden-Baden kam rasch näher, und der Zug begann zu bremsen. Als sich Kronstein wieder seinen Mitreisenden zuwandte, blickte er in den Lauf einer Pistole, die mit den Bewegungen des Zuges leicht auf und ab schwankte. Eine zweite Waffe war auf den schlafenden Solowjov gerichtet. Das Kartenspiel war verschwunden, der Deckel des obersten Koffers geöffnet.
    »Warum sollten wir uns mit einem Stein begnügen, wenn wir alle haben können?«, fragte leise einer der jungen Bauern mit einem unverschämten Grinsen und stupste Kronstein mit der Pistole an. »Los, Väterchen, geben Sie uns den Stock! Wir sind lange genug mit Ihnen durch halb Europa gereist. Für uns ist hier Endstation.«
    »Das ist ein großer Fehler. Sie werden nicht weit kommen«, stellte Kronstein ruhig fest.
    »Lassen Sie das unsere Sorge sein, Kronstein. Auch wenn wir für die Diamanten nur die Hälfte von dem bekommen, was sie eigentlich wert sind, so reicht es für uns alle drei allemal bis ans Lebensende.«
    Die Bremsen des Zuges wurden stärker angezogen und begannen zu quietschen. Das Geräusch weckte Solowjov aus seinem Tiefschlaf und er fuhr hoch. Mit einem Blick erfasste er die Situation.
    »Habt ihr den Verstand verloren? Was macht ihr da?«, brüllte er und wollte aufspringen, aber einer der jungen Männer drückte ihm seine Pistole an die Brust.
    »Bleib ruhig sitzen, Pjotr, dann geschieht

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