Falsch
»Wie kommt man auf die Idee, in einer Garage zu wohnen?«, erkundigte sie sich mit einer Stimme, die kein bisschen ironisch klang.
»Ganz einfach«, antwortete Chris. »Aus Geldgründen und sicher nicht aus irgendeiner verrückten Mode heraus. Loader verdienen nun einmal verdammt wenig, und München ist ein teures Pflaster.« Während er eine Dose Bier aus dem kleinen Kühlschrank holte und ein sauberes Glas suchte, erzählte er seiner Besucherin von dem Einzug in die Tiefgarage vor einem Jahr und im selben Atemzug auch gleich von dem bevorstehenden Exodus.
»Sie haben BWL studiert? Bei mir waren es Deutsch und Geschichte.« Bernadette nippte an ihrem Bier und schaute Chris über den Rand ihres Glases forschend an. »Haben Sie schon eine Ahnung, was Sie danach machen wollen? Welchen Job in welchem Land?«
»Meine Mutter war Südamerikanerin und mein Vater Deutscher«, antwortete Christopher, »ich habe also zwei Muttersprachen, da es keine Vatersprache gibt. Das sollte den Horizont der Berufswahl erweitern.«
»War?« , hakte Bernadette nach.
Chris nickte. »Sie sind beide bei einem Unfall ums Leben gekommen. Aber Sie brauchen mir kein Beleid auszusprechen, es ist schon lange her. Ich bin bei meiner Großmutter in Berlin aufgewachsen und mit achtzehn ausgezogen. Seither schlage ich mich alleine durch.«
»Und tragen zerstreuten Passagieren Koffer und Pass hinterher«, lächelte seine Besucherin. »Danke dafür, obwohl es wahrscheinlich gar nicht Ihr Job ist, oder?«
»Ertappt«, gab Chris grinsend zu, »ich war einfach nur neugierig, als ich die Gepäckabschnitte auf dem Asphalt liegen sah. Und dann bin ich bei Ihrer Mutter gelandet …« Bernadette lachte und Chris war hin und weg. Schließlich fing er sich wieder. »Auf dem Bild in Ihrem Pass sehen Sie übrigens mit den langen Haaren ganz anders aus.« Er wollte ›jünger‹ sagen, überlegte es sich jedoch im letzten Moment. »Aber warum sind Sie gekommen? Ein Anruf hätte doch auch genügt oder eine SMS .«
Sie schaute ihn spitzbübisch an. »Vielleicht war es auch Neugier? Wer weiß? Ich wusste zwar schon, wer mich erwartet …«
»Aber nicht, was«, meinte Chris und deutete mit einer Handbewegung auf seine spärlich eingerichtete Behausung.
»Haben Sie schon etwas gegessen heute?«, wechselte Bernadette diplomatisch- unvermittelt das Thema.
Er schaute unschuldig. »Warum? Knurrt mein Bauch so laut?«
»Sehr gut! Ich wollte Sie sowieso zum Essen einladen, schon um mich zu revanchieren für Ihre Mühe. Mein Wagen steht eine Etage höher. Ich gehe ihn holen, und dann lassen Sie uns in die Stadt fahren.«
»Mein Anzug ist aber in der Reinigung … Ich habe nichts Vernünftiges anzuziehen«, warnte er sie.
»Lokale, in denen die Kellner vornehmer sind als die Gäste, sind sowieso nicht meine«, gab Bernadette zurück. »Wir finden in Schwabing sicher etwas Gemütliches mit großen Portionen, damit Sie nicht hungrig bleiben.«
»Klingt super!«, freute sich Christopher. »Geben Sie mir fünf Minuten, und ich bin so gut wie neu.«
Als der dunkelblaue Porsche 911 Turbo mit dem heiseren Klang einer tiefschwarzen Soul-Sängerin aus der Tiefgarage schoss, schnallte sich Chris auf dem Beifahrersitz an. Er beobachtete aus den Augenwinkeln, wie geschickt Bernadette Bornheim den Sportwagen in den Zubringer zur Autobahn einfädelte. Dann presste ihn die Beschleunigung in den Sitz.
Die schwere Mercedes-Limousine, die ihnen in sicherem Abstand in die Stadt folgte, bemerkte keiner von beiden.
15. November 1917,
Bahnstrecke Frankfurt–Basel/Deutsches Reich
Der D-Zug vom Frankfurter Hauptbahnhof nach Basel war pünktlich, trotz eines Gewitters, das neben sintflutartigen Regenfällen in den Bergen den ersten Schnee brachte. Samuel Kronstein blickte auf die vorbeiziehende Landschaft und beobachtete das Wetter mit Sorge. Die kaiserliche Kurstadt Baden-Baden lag noch eine gute halbe Stunde entfernt, und die fast fabrikneue, schwere Schnellzuglokomotive der preußischen Staatseisenbahnen mit ihren riesigen, mehr als zwei Meter großen Triebrädern hatte mit den wenigen Schnellzugwagen leichtes Spiel.
Sie rasten mit fast 130 Kilometern in der Stunde in Richtung Süden. So weit war bisher alles gutgegangen.
Kronstein hatte ein Abteil in der ersten Klasse reserviert, die von der volkstümlichen »Holzklasse« so weit entfernt war wie die Westfront von den eleganten Salons in Wien oder Berlin. Feinster Samt, bequem gepolsterte Sitzbänke, Goldkordeln und schwere
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