Falsch
Überbordende Blumenkästen und strahlend weiße Fensterläden verliehen dem mehr als hundertfünfzig Jahre alten herrschaftlichen Haus ein freundliches Aussehen, trotz des verwitterten Holzes, das in den Jahrzehnten eine fast schwarze Farbe angenommen hatte.
Von einer deutschen Kaufmannsfamilie Brunhardi aus Frankfurt Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut, blickte die Villa auf eine wechselhafte Geschichte zurück. Als die Brunhardis wegen eines Konkurses zur Jahrhundertwende das Anwesen verkaufen mussten, erwarb es ein österreichischer Industrieller, Simon Kandel, der gemeinsam mit seiner Familie jedes Jahr die Sommer in Altaussee verbrachte, seine Lederhosen beim lokalen Schneider anfertigen ließ und stundenlange Touren in die umliegenden Berge unternahm. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 an das Deutsche Reich war die Idylle allerdings schlagartig zu Ende. Die Familie Kandel wurde nie wieder in Altaussee gesehen, die Nationalsozialisten arisierten das Textil-Unternehmen und alle Besitzungen, verhafteten den Eigentümer und ermordeten ihn wenige Tage vor Kriegsende im KZ Mauthausen. Seine Frau und die einzige Tochter waren bereits Monate zuvor in Auschwitz vergast worden.
Versuchte man im Altaussee des Dritten Reichs Kandel so rasch wie möglich zu vergessen, so munkelte man über die Nutzung der Industriellen-Villa in der NS -Zeit nur hinter vorgehaltener Hand. Im Jahr 1942 zog eine mysteriöse »Stiftung Wolf« ein, die im Grundbuch als Eigentümer des Hauses eingetragen wurde. Während im nahe gelegenen Toplitzsee die geheimen Versuche einer marinetechnischen Versuchsstation liefen, gingen seltsam schweigsame Männer in Uniform als Besucher in der Villa Kandel ein und aus. Auf Anfrage von Seiten der Gemeinde sprach man von einer »kriegswichtigen Einrichtung« und verschanzte sich ansonsten hinter der Geheimhaltungspflicht.
Die große Zäsur kam mit dem Kriegsende im Mai 1945, als die Marineversuchsstation, die Stiftung Wolf und damit auch die Bewohner der Villa über Nacht spurlos verschwanden. Das Haus stand erst leer, füllte sich schließlich nach einigen Wochen mit Flüchtlingen, die in der sogenannten Alpenfestung gestrandet waren und eine Bleibe suchten.
Ein paar Jahre später stand die ehemals prächtige Villa, abgewohnt und zum Teil innen verwüstet, zum Verkauf. Ein Kriegsgewinnler aus Wien wurde der neue Besitzer. Er setzte sie wieder instand, legte den Garten neu an und zog den Zaun um das riesige Grundstück, in dem mehrere alte Bäume alle Wirren der Zeit überlebt hatten.
Der Mann, der nun auf der Terrasse im Garten den spätsommerlichen Nachmittag genoss, legte nachdenklich das Telefon zur Seite und blickte dann über den Rand seiner Sonnenbrille auf den See hinunter. Ein paar Ruderboote zogen ihre Bahn, aber sonst war es ruhig geworden in dem Luftkurort. Die Touristen waren wieder heimgefahren, die internationalen Reisebusse verschwunden. Der Geburtsort des Schauspielers Klaus Maria Brandauer gehörte wieder den Einheimischen.
Soichiro Takanashi griff geistesabwesend zu seinem Glas Mineralwasser und nippte daran. Der Anruf aus Südamerika hatte den Japaner überrascht. Takanashi lebte seit den frühen neunziger Jahren in Altaussee und hatte vor rund fünfzehn Jahren die Villa Kandel erworben, als sie erneut zum Verkauf stand. Er war mit der Produktion von Klimaanlagen in Asien reich geworden, bevor er sein Unternehmen verkauft hatte, um sich ganz seiner Leidenschaft zu widmen: Takanashi war einer der bedeutendsten Militaria-Sammler weltweit. Sein Spezialgebiet war das Dritte Reich, seine Kenntnisse, die er im Lauf von Jahrzehnten erworben hatte, waren bei Händlern und befreundeten Sammlern gleichermaßen hochgeschätzt. Noch keine sechzig Jahre alt, galt Takanashi als die Institution, wenn es um die Begutachtung und Bewertung von Sammlerstücken galt, die aus dem Zeitraum 1933 bis 1945 stammten.
Die Villa Kandel hatte Takanashi mit Bedacht gewählt. Bei Kriegsende war in Altaussee die Prominenz aus dem auseinanderbrechenden Dritten Reich zusammengetroffen. Exilregierungen mit Koffern voller Gold und Drogen, Geheimagenten auf der Durchreise, Generäle mit ihren jeweiligen Armeekassen, deutsche und österreichische Gauleiter, SS -Granden und Polit-Prominenz, reiche Sympathisanten auf der Flucht und Kriegsgewinnler auf dem Weg nach Südamerika – sie alle reisten über Altaussee. Die sogenannte »Rattenlinie«, die viele Nazis über Südtirol und den Vatikan bis in andere Kontinente
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