Falsch
rechts von ihm Wagen, und ein kurzes Hupen ließ ihn hochfahren. Ein ungeduldiger VW -Fahrer winkte ihn mit wedelnden Handbewegungen energisch beiseite, um ebenfalls einzuparken. Also steckte Christopher Pass und Ticket ein, nahm sein Buch und den Liegestuhl und klemmte sich die leere Pizza-Schachtel unter den Arm. So hatte er leider keine Hand frei, um dem VW -Fahrer den Stinkfinger zu zeigen.
Aber er dachte ihn sich dafür umso nachdrücklicher.
Armenviertel La Cruz,
Medellín/Kolumbien
Er hatte vor langer Zeit aufgehört zu zählen.
Als die Sonne endlich über den Bergen aufgegangen war, lagen eine anstrengende Nacht und zwei weitere Leichen hinter Alfredo. Das junge Mädchen in der blauen Schuluniform und der weißen Bluse am frühen Morgen hatte ihn nicht kommen hören. Sie starb schnell mit dem Gesicht im roten Staub des ausgedörrten Spielplatzes, über den ihr täglicher Schulweg führte. Die alte Frau war ein ganz anderes Kaliber gewesen. Schwer bepackt mit Taschen und Plastiktüten war sie vom Einkaufen nach Hause gewackelt, hatte ihm misstrauisch entgegengesehen. Als er die Pistole gezogen hatte, gellte ihr Schrei auch schon durch die morgendliche Straße. Alfredo schoss zweimal. Dann ergriff er ihre Tüten und rannte los.
Er fragte nie, weshalb er sie umbringen sollte. Er nahm die Fotos, zählte das dünne Bündel an Pesos, abgegriffene Noten bevorzugt. 250000 Pesos für normale Aufträge, minus dem Stammkundenrabatt, umgerechnet rund 90 Euro.
Menschenleben waren nicht teuer in Medellín.
Die Stadt hatte zu viele davon.
Alfredo war zuverlässig. Er tötete Menschen, gewissenhaft, erfolgreich, und das seit Jahren. Er verspürte keinen Hass, keinen Groll und keine Gewissensbisse.
Er tat es einfach.
Dann ging er, wie immer, in die Kirche La Candelaria im alten Berrío-Park, um zu beten.
Er beichtete nie. Wem sollte er es auch erzählen?
Wenn er das mächtige Gotteshaus aus zweifarbigen Ziegeln wieder verließ, wanderte er stets noch ein paar Minuten ziellos durch den Park, ließ sich mit der Menge treiben und ging in ihr unter. Aus dem gläubigen Sicario wurde wieder ein Teil der Stadt am Fuße der Anden, einer von vielen, ein Mörder unter Nichtsahnenden in der Hauptstadt der Blumen.
So hatte es der hagere, fast kahlrasierte 25-Jährige mit dem Totenkopf-Tattoo über dem gekreuzigten Jesus am schmalen Oberarm mit der Zeit zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht. In seinem Viertel, dem berühmt-berüchtigten Stadtteil Medellíns, der den bezeichnenden Namen »La Cruz« trug und in dem nur jeder Dritte über einen Job verfügte, betrachtete man ihn als reichen Mann, der bald tot sein würde.
Niemand überlebte als Auftragsmörder lange in Kolumbiens Drogenmetropole, egal, für wen er arbeitete, und ganz gleich, wie vorsichtig er auch war. Irgendwann machte jeder einen Fehler, früher oder später, fuhr in das falsche Viertel, lief den falschen Leuten vor den Lauf, kaufte seine Zeitung am falschen Kiosk. Und starb im mörderischen Kugelhagel, der in Medellín an der Tagesordnung war. Ob Paramilitärs, Milicianos oder Guerilla, alle waren bis an die Zähne bewaffnet, skrupellos und brauchten ständig Geld. Und davon gab es genug. Man musste nur die richtigen Leute kennen.
Alfredo hatte es irgendwann aufgegeben, über seinen Job nachzudenken. Dazu war es nach fast zehn Jahren sowieso zu spät.
Im Gegenteil – es war ein Wunder, dass er noch lebte. Aussteigen kam nicht mehr in Frage. Aus einem Job wie seinem stieg man nicht einfach aus. Man starb auf der Straße.
So erwartete Alfredo auch nicht, jemals die dreißig Kerzen auf seiner Geburtstagstorte auszublasen, unter den Klängen von einem misstönenden »Happy birthday«. Bis dahin sind es noch fünf Jahre, dachte er resigniert, eine Ewigkeit, die ich nicht erleben werde.
Dreißig war ein geradezu unerreichbares Alter für einen Sicario in Medellín.
Nachdenklich schaute er hinüber zu Vincente, der geschickt mit raschen Handgriffen das Mittagessen in der fensterlosen, stickigen Küche zubereitete. Teigfladen mit Fleischfülle und Guacamole, davor Broccolicremesuppe.
Der dürre Vincente, sein Mädchen für alles, war größer als er, hatte riesige Segelohren, die er hinter einer dichten schwarzen Mähne zu verstecken suchte. Der Junge hatte fünf Jahre seines Lebens in einem Abwasserrohr verbracht, nachdem ihn seine Mutter mit elf aus der Wohnung geschubst hatte, bevor sie sich an der Gasleitung erhängte, die durch ihre Toilette führte.
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