Falsch
Sie kam damit der Krankheit zuvor. AIDS war in Kolumbien ein Todesurteil.
Das Rohr, in dem Vincente danach hauste, führte unter der Straße Calle 102 im berüchtigten Elendsviertel Santo Domingo Savio hindurch. Es hatte eine blinde Abzweigung, eine unterirdische Sackgasse, die nie fertiggestellt worden war. Aus diesem dunklen Loch unter der Fahrbahn war der dürre Junge nur ungern hervorgekrochen, lediglich wenn er Hunger hatte und unbedingt Geld brauchte oder wenn es geregnet hatte und sein Zuhause wieder einmal überschwemmt war. Dann lief er durch die Straßen ins Zentrum oder in die reicheren Viertel und suchte sich sein Opfer.
Denn Laufen war seine Passion. Er hatte einen unbändigen Bewegungsdrang.
Vincente stahl oder überfiel Menschen nicht gern, aber er musste es tun, etwa wenn er seit Wochen kein Geld mehr für eine einzige kalte Mahlzeit am Tag hatte und knapp vor dem Verhungern war.
Aber laufen, das hielt ihn am Leben.
Essen musste er, laufen wollte er.
Und es half bei der Flucht vor der Polizei, die meist nicht lange fackelte. Ein toter Dieb war ein guter Dieb in Medellín, und niemand wagte nachzufragen, wenn wieder eine Leiche in einem Armengrab oder bei einer Massenbestattung unter der Erde verschwand.
Alfredo, der Sicario, war beim zehntägigen Blumenfest letzten August durch eine Verkettung unglücklicher Umstände an den spindeldürren Vincente geraten, als er sich nach einem der üblichen Aufträge überraschend einer Polizeikontrolle gegenübersah und in den Straßengraben springen musste. Leise fluchend hatte er gegen den Strom der Abfälle im braunen Brackwasser angekämpft und endlich ein Betonrohr gefunden, das unter der Straße hindurch auf die andere Seite ging. Minuten später hatten er und Vincente nebeneinander in der Scheiße gelegen, im wahrsten Sinn des Wortes, während oben genagelte Stiefel das löchrige Pflaster zum Klingen gebracht hatten.
Als die Gefahr vorüber gewesen war, hatte er den unterernährten, stinkenden Vincente mitgenommen, in seine kleine, aber saubere Wohnung im Viertel La Cruz mit dem farbenfrohen Bild der Mutter Maria über der Kommode und dem ausgeblichenen Foto von Che Guevara an der Klotür. Der Junge war erst nur zögernd über die Schwelle getreten, hatte sich neugierig umgesehen, mit seinen großen schwarzen Augen und einem gierigen Zug um den Mund. Dann war er auf den Rand eines Sessels niedergesunken, immer zum Sprung bereit.
Alfredo hatte einen Teller mit Chili con Carne in der Mikrowelle aufgewärmt und ihn vor Vincente auf den Tisch gestellt, einen Aluminium-Löffel danebengelegt. Augenblicke später war der Teller leer gewesen. Alfredo hatte noch niemals jemanden so schnell schlingen gesehen. Der Junge schien das Essen vertilgen zu wollen, bevor es ihm davonlaufen konnte. Dann tat Vincente etwas Seltsames. Er nahm wortlos Löffel und Teller mit in die Küche, hielt sie unter das fließende Wasser und spülte gründlich.
Alfredo wartete auf einen Dank, aber der kam nicht. Also wandte er sich achselzuckend um, legte die Beretta mit dem zerkratzten Griff auf den Tisch, räumte seine Taschen leer wie immer und ging ins Schlafzimmer, um sich die stinkenden Kleider auszuziehen. Als er wieder ins Wohnzimmer zurückkam, schwebte die Hand des Jungen über der Waffe. Er war völlig in den Anblick des gebläuten Stahls versunken, wollte fasziniert die Beretta berühren, darüber streichen, wie über die Haut einer Frau.
Mit zwei raschen Schritten war Alfredo neben ihm gewesen und hatte mit einer ausholenden Bewegung Vincentes knöchrige Hand auf die Tischplatte genagelt, mit dem Stilett seines Großvaters, das ihn nie verließ.
Der gellende Schrei des Jungen war noch drei Blocks weiter zu hören gewesen.
Doch damit waren die Fronten geklärt, ein für alle Mal. Und der Sicario wusste nun, dass der Junge stumm war, von Geburt an, wie Vincente ihm gestenreich erklärte und lallend auf seine verkümmerte Zunge zeigte.
Alfredo machte ihm daraufhin ein spontanes Angebot, das Vincente für immer aus seiner Höhle unter der Straße holte. Seitdem schlief der hagere Junge zusammengerollt auf dem weichen Sofa im Wohnzimmer mit der fleckigen Zudecke, kochte für seinen neuen Boss, machte Einkäufe und erledigte Botengänge.
Und schwieg. Das ersparte Alfredo, ihm die Zunge herauszuschneiden.
Vincente war ein Naturtalent, wenn es ums Kochen ging. Er hatte Spaß daran, und das sah und schmeckte man. Alfredo beobachtete ihn nach wie vor, während seine
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