Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
Vom Netzwerk:
Gedanken zu dem Schulmädchen und der Alten zurückkehrten, was ihn selbst am meisten überraschte. Seine Opfer verschwanden sonst immer rasch in einem Nebel aus Vergessen und Verdrängen, Nichtigkeit und Bedeutungslosigkeit. Er dachte nicht mehr an sie, wie er auch das Zählen mit der Zeit eingestellt hatte. Das Gebet in La Candelaria war für ihn stets wie eine Decke gewesen, die er über seine Erinnerungen ausbreitet und glattstreicht.
    Doch diesmal war es anders, und der Sicario fragte sich, warum. Das lange dunkle Haar der Kleinen, das ihr Gesicht eingerahmt hatte. Die Trageriemen ihrer Schultasche hatten tief in ihre Schultern geschnitten. Wem hatte sie im Weg gestanden? War es eine Strafaktion gewesen oder eine Warnung?
    Alfredo versuchte die Gedanken zu vertreiben und schnüffelte in Richtung Küche. Er sollte Vincente auf eine Kochschule schicken oder zum Küchenchef ausbilden lassen, dachte er. Ehrliche Arbeit, guter Lohn und kein Leben auf der Straße. Vielleicht sogar ein Posten im Ausland, in den USA oder gar Europa. In einer anderen Welt, fern von dem Schmutz der Favelas. Der Junge könnte eine echte Chance haben. In einer großen Küche muss man nicht allzu viel reden, dachte Alfredo, bevor seine Gedanken wieder zum heutigen Morgen zurückkehrten.
    Die alte Frau wäre sowieso bald gestorben, sie war aufgedunsen und ihre Beine voller Wasser. Alfredo sah sie vor sich, wie sie auf ihn zuwackelte, rechts und links prall gefüllte Plastiktaschen. Sah ihren alarmierten Blick, das Verstehen in ihren Augen. Hatte sie es geahnt?
    Er stand auf, öffnete das Fenster und blickte auf die schmale Straße hinunter, in der kreischende Kinder in Windelhosen unter den wachsamen Augen ihrer Mütter herumkrabbelten oder Fangen spielten. Ein Schwall warmer Luft kam ins Zimmer. Die Stadt des »Ewigen Frühlings«, wie man Medellín nannte, machte ihrem Namen alle Ehre.
    Als er sich umdrehte, hielt ihm Vincente grinsend eine eiskalte Bierflasche unter die Nase. Er hatte sich ein Küchentuch um die Taille gebunden, und über seinen nackten Oberkörper rannen Schweißtropfen. Mit ausgestreckten Händen und gespreizten Fingern bedeutete er ihm, dass es in zehn Minuten Essen geben würde.
    Das war der Augenblick, in dem die Taube auf dem Fensterbrett landete.

Aeropuerto Internacional »El Dorado«,
Bogotá/Kolumbien
    Der klapprige Pick-up zischte und rauchte an der Schranke der Security-Kontrolle zum Frachtterminal, als würde er jeden Moment in die Luft fliegen. Das ganze Auto zitterte, und irgendetwas im Motorraum quietschte erbärmlich. Der Sicherheitsbeamte hob seinen Blick von den abgegriffenen Papieren und schaute den Fahrer strafend an.
    »Hast du eine Ziege eingesperrt in dieser fahrende Ruine?«, rief der dicke Uniformierte anklagend und machte eine wegwerfende Handbewegung, die das gesamte rostige Elend vor ihm mit einer einzigen Geste zu Schrott diskreditierte. »Du solltest eigentlich gar nicht durch diese Kontrolle kommen, weil der Wagen allein bereits ein Sicherheitsrisiko darstellt.«
    Es war ein Ritual, das sich nun seit mehr als zwanzig Jahren jeden Tag aufs Neue wiederholte. Wagen und Fahrer waren gemeinsam älter geworden, mit unterschiedlichen Resultaten. Die grauen Schläfen standen Georg Gruber, Sohn deutscher Einwanderer, ausgesprochen gut. Der Rost zerfraß derweil seinen Wagen zu einem rollenden Schweizer Käse. Die Speditionsagentur, die Gruber vor Jahren von seinem Vater übernommen hatte, erlaubte es ihm gerade noch zu überleben, aber nicht, ein halbes Vermögen in einen neuen Pick-up zu investieren. Also musste es der alte noch einige Jährchen tun. Auch wenn er quietschte und jaulte.
    »Du bist nur neidisch, weil dein neuer Golf überhaupt kein Geräusch mehr macht, Amigo«, erwiderte Gruber gut gelaunt. »Und gib mir die Papiere wieder, du kannst sowieso nicht lesen.«
    »Mach weiter so, und ich denke über eine Leibesvisitation nach«, grummelte der Uniformierte grinsend und klappte die Mappe mit den Papieren und dem Ausweis Grubers zu.
    »Ich bekomme gleich Angst«, erwiderte der Fahrer leichthin und streckte fordernd die Hand aus. »Transportgut – keines, Wagen – noch immer der alte, Chauffeur – hoffentlich bald in Frühpension. Also gib mir die Mappe zurück und halte mich nicht auf, meine Sekretärinnen warten auf mich.«
    Mit aufjaulendem Motor bog der ehemals rote Pick-up wenige Minuten später auf die Verbindungsstraße entlang des internationalen Luftfrachtgeländes ein. Kolumbiens

Weitere Kostenlose Bücher