Falsche Brüder
Nordamerika mit einer Kapazität von
fünftausend Menschen und
– entsprechend dem damaligen
Stand – aufs Beste eingerichtet. Und ich spinne weiter:
Fünftausend der reaktionärsten, aber auch der fähigsten Leute
einer Machtgruppierung wären in der Lage gewesen, die Station
in den Raum zu steuern, sich und ihre Lebensbedingungen über
Jahrhunderte zu regenerieren, doch stets vom Wunsch beseelt,
die Enge des Schiffes gegen eine neue Erde, die sie sich nach
ihren Vorstellungen einrichten würden, zu tauschen. Und wenn
sie eine gefunden hätten, die von zwar vernünftigen, aber
friedfertigen und schwachen Wesen bewohnt gewesen wäre, was,
glaubst du, Irene, hätten sie getan?“
„Aber Igor, sie wären Menschen!“
„Das waren solche immer, auch als sie in Afrika die
Eingeborenen fingen, schlimmer als Vieh verfrachteten und
verkauften, versklavten. Indianer wurden wie Hasen
abgeschossen. Menschen waren sie, als sie Millionen
ihresgleichen in Konzentrationslagern quälten, vergasten, und,
Irene“, ich steigerte mich in einen bitteren erregten Ton, „ich
habe gesehen, wie sich die jetzigen Usurpatoren brutal
medizinische Kenntnisse über die Menschen verschafften.
Vorfahren jener in dem fiktiven Raumschiff haben in jenen
Lagern Tausende von Menschen in scheußlichster Art und Weise
für medizinische Versuche missbraucht. Da warfen die gleichen
Atombomben in offene japanische Städte. Später fielen sie über
kleine Völker her mit Napalm, versprühten giftige Chemikalien
und schmissen zerfleischende Kugelbomben. Das alles hast du in
der Schule gelernt, Irene. Solange solchen Menschen nicht
Einhalt geboten werden konnte, haben sie doch nicht verhandelt.
Und jene, die aus solch einer ideologischen Heimstatt kommen
und für sich einen Planeten brauchen würden, sie nähmen ihn
ohne Federlesen, vor allem, ohne zu reden mit den Schwachen.
Wenn nun jene, die in Finnland einfielen, in ein solches Bild
passen? Ich habe manches Mal daran gedacht.“
Irene hatte sich auf den Rücken zurückfallen lassen. Sie sagte
lange nichts. Dann seufzte sie und flüsterte beklommen: „Das
wäre schrecklich, Igor.“
Mir fiel plötzlich Weiteres ein: Ich würde nicht länger
Beobachter sein, würde nicht mehr herumspekulieren können,
klug schwatzen: man müsste, man könnte… Wenn nur andere
wirklich ran mussten. Diese Position ging nicht mehr. Ich
gehörte nun, von heute auf morgen, zu jenen, von denen die
anderen erwarteten, dass sie etwas unternähmen, dass sie die
Gefahr abwenden würden.
Was ich keineswegs beabsichtigt hatte, unbeschwert war dieser
Nachmittag nun nicht mehr.
Im Mühen, düstere Gedanken hinwegzuschieben, wurde ich
unverhofft unterstützt: Ein Junge schoss vom Strand
her
versehentlich einen nassen Ball auf Irenes Leib, die schaudernd
in die Höhe fuhr und lachend versuchte, ein Gemisch aus
Sonnenschutzcreme, Wasser und Sand von ihrem Körper zu
wischen. Sie zog mich ausgelassen mit sich, und beim
übermütigen Schwimmen wuschen sich meine unerfreulichen
Spekulationen und Ängste ab.
Es gelang mir von Helsinki aus mit einer Militärmaschine bis
Kemijärvi zu fliegen. In Rovaniemi, wo ich mich hatte
fernschriftlich zurückmelden lassen, kam ich dennoch, per
Anhalter, sehr spät an.
Ich fand weder das angeforderte Fahrzeug noch eine Nachricht
vor. Über die tatsächliche Lage an der Front erfuhr ich zudem
nur Ungenaues, sodass ich zunächst nicht mit Sicherheit
anzugeben imstande gewesen wäre, wo ich eigentlich hin wollte.
In wessen Hand Inari sich zum Zeitpunkt befand, konnte ich
nirgends erfahren.
Ich hatte den Eindruck, Strom und Stau der Flüchtlinge oder
Evakuierten hätten sich verstärkt. Ich fragte viele Leute nach
ihren Heimatorten, und ich musste mit Hilfe einer Karte
feststellen, dass die meisten aus Siedlungen diesseits einer Linie
kamen, die etwa von Osten nach Westen auf der Höhe von
Ivalo durch das Land verlief. Ich traf auch auf Leute, die aus
den angrenzenden Gebieten stammten. Allerdings hatten diese
nirgends Berührung mit den Eindringlingen, sie hatten in einer
Art Panik vor der offiziellen Evakuierung ihre Heimat verlassen.
Wartend verbrachte ich vier Stunden in Rovaniemi. Möglich,
der Fahrer hatte sich verspätet; er oder eine Nachricht würde
noch eintreffen. Beides geschah nicht.
Dann begab ich mich kurz entschlossen zum nördlichen
Stadtrand, auf die Fernstraße vier, nahm mir sogar Zeit, die,
freundliche Architektur aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten
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