Falsche Brüder
Jahrhunderts zu besichtigen. Im Lapia-Haus, den Tunturi, den
kahlen Hügeln des Nordens, nachgebildet, spielte man „My fair
Lady“.
Mir rollten unzählige Fahrzeuge entgegen, zum allergrößtem
Teil private und, nach der Last zu urteilen, überwiegend
Fluchtwagen. Hatten die Menschen das Vertrauen zu den
Regierungen, den Maßnahmen der Vereinten Nationen verloren?
Warum nahmen sie nicht die organisierte Evakuierung wahr,
die für sie Vorteile brachte? Man konnte mehr Gepäck
mitnehmen und wurde auch sicherer in neuen Gebieten wieder
eingegliedert.
War es die Angst, die sie vorzeitig vertrieb, das Wissen um die
Grausamkeit der Fremden? Oder wurde die finnische Regierung
der organisierten Entsiedlung nicht Herr?
Gen Norden fuhren wenig Fahrzeuge, kaum private, meist
überladene Militärwagen.
Ich schlenderte unentschlossen. Bei jedem Fahrgeräusch
hinter mir drehte ich mich um, winkte. Einige hielten,
bedauerten dann, dass sie nach wenigen Kilometern von der
gewünschten Richtung abweichen würden.
Nach einer flachen Straßenbiege traf ich überraschend auf
eine stehende Militärkolonne.
Junge Leute in Uniformen standen neben ihren Lastwagen,
einem Typ, den ich nicht kannte, grüne Lastfahrzeuge mit
aufgebauten Rohrbündeln. Auch Soldaten in dieser einfachen,
grünbraunen Uniform sah ich zum ersten Mal.
Ich erkundigte mich nach dem Fahrziel.
Sie nannten mir Ivalo, die Stadt an der Fernverkehrsstraße, die
etwa dreißig Kilometer südöstlich von Inari lag.
Ich beschleunigte den Schritt, aus Furcht, die Kolonne könnte
sich in Bewegung setzen, bevor ich den beaufsichtigenden
Offizier, den ich an der Spitze der Wagenreihe
vermutete,
gebeten hätte, mitfahren zu dürfen.
Wenig später jedoch stellte ich fest, dass jede Hast unnötig war:
Einem der Fahrzeuge hatte man den halben Motor entfernt;
einige junge Soldaten standen herum, bereit, Werkzeug in eine
ölverschmutzte Hand zu legen, die ab und an neben einem
gewaltigen Hinterteil aus dem Motorraum auftauchte, begleitet
von einem dumpf klingenden Befehl.
Ich fragte nach dem leitenden Offizier.
Einer der jungen Männer deutete auf das Hinterteil. „Da“,
sagte er, „Leutnant Kladivo.“
Dieser Kladivo hatte offensichtlich ein gutes Gehör. „Wer will
etwas von mir?“, schallte es unwillig unter dem Blechdeckel
hervor.
Ich kam dem etwas verlegenen jungen Mann zu Hilfe. Ich rief
meinen Namen und fügte hinzu: „Auf dem Weg nach Inari – zu
meiner Einheit.“
„Augenblick.“
Der Augenblick dauerte eine halbe Stunde, in der Kladivo seine
Haltung nicht im Mindesten veränderte. Er ließ sich nach wie vor
Schlüssel, Zangen und Schraubendreher reichen, hantierte
unsichtbar, eingebettet das Tun in kräftige Flüche. Den
Fremdling hatte er offensichtlich vergessen.
Unvermittelt jedoch kroch er hervor. Sein übriger Körper
entsprach in seiner Wuchtigkeit dem Teil, den ich schon eine
Weile studiert hatte. Ein großmächtiger, wohlgenährter,
vielleicht fünfunddreißigjähriger Mann mit einem blonden
Vollbart, der in eine wellige Mähne überging. Er wischte sich
mit dem noch einigermaßen sauberen Oberärmel seines Hemdes
die Stirn.
„Aha“, sagte er mit einem Blick auf mich. Und mit einem
nachdenklichen Tonfall: „Zu deiner Einheit…“ Dann ordnete er
den Einbau der herumstehenden Teile an, öffnete an der Seite
des Wagens einen Wasserkanister und begann sich prustend zu
waschen.
„Habe ich eine Chance mitzufahren?“ Länger wollte ich mit
meinem Anliegen nicht zurückhalten. Mir fiel ein, dass ich der
höher Chargierte war, dass ich sicher meinen Transport hätte
erzwingen können. Aber die neuen Rechte und Pflichten musste
man sicher erst erlernen; und ich wusste nicht, ob es mir je
liegen würde, sie auch zu nutzen.
„Wohin?“
„Eigentlich nach Inari.“
„Inari, Inari…“ Er sann dem Namen nach. „Das gibt es für uns
wahrscheinlich nicht mehr. Was willst du da?“
„Na, meine Einheit operiert dort.“
„Aha – deine Einheit.“ Der Hüne musterte mich aufmerksam.
„Dann warst du wohl schon einmal dort?“
„Allerdings.“
„Aha!“
Ich hatte den Eindruck, dass mein Gegenüber nunmehr
wesentlich interessierter an dem Gespräch war.
„Natürlich“, sagte er eifrig, „du kannst mitfahren. Aber nur bis
Ivalo. Dort beziehen wir Stellung, heißt es.“
„Die Lage muss sich mächtig verändert haben in den paar
Tagen“, dachte ich. Und zugleich stellten sich Sorgen ein um
Dagmar, die Kameraden.
„Was seid ihr
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