Falsche Nähe
du wahnsinnig?« Noa springt auf. »Bist du völlig übergeschnappt? Du hast das Fenster kaputt gemacht.«
Von Audrey kommt nichts, keine Reaktion. Nun verspürt Noa das Bedürfnis, auf und ab zu gehen, und genau das tut sie auch, zumindest so lange, bis es an der Tür klingelt. Tom hat den Krach gehört und macht sich Sorgen. Aus unerfindlichen Gründen empfindet Noa tiefe Scham, als wäre sie Schuld an Audreys Ausraster, und sie erspinnt eine abenteuerliche Geschichte, in der Pancake und eine Vase eine Rolle spielen, um ihn so schnell wie möglich abzuwimmeln.
»Was für ein verrückter Kater«, sagt ihr Nachbar mit einem Kopfschütteln und geht. Noa würde sich am liebsten anschließen und lungert im Flur herum, bis das schlechte Gewissen sie ins Wohnzimmer zurücktreibt.
Drei Uhr nachts. Audrey hat die Couch nicht verlassen, hockt dort jetzt mit angewinkelten Knien, um die sie beide Arme geschlungen hat. Ihr Blick haftet auf der Scheibe, die durch den Schaden durchlässig geworden ist. Kühle Nachtluft dringt ein. Man kann den Fluss riechen, ein stumpfer, leicht brackiger Geruch, vermutlich vom Hafenbecken ausgehend.
»Was machst du bloß für Sachen?«, fragt Noa, obwohl sie nicht glaubt, dass sie eine Antwort erhalten wird. Sie kann immer noch nicht fassen, was geschehen ist. Audrey ist ein impulsiver Mensch, aber so etwas hat sie nie zuvor getan. Es steht in keinem Verhältnis zum Anlass ihrer Wut. Noa schwankt zwischen Sorge und Ablehnung, würde gern jemanden um Rat fragen. Wenn sie nur wüsste wen.
Anstatt zu reden oder wenigstens aufzuräumen, lässt Audrey ihre Schwester am Ende wieder allein. Wenigstens verlässt sie diesmal nicht die Wohnung, sondern zieht sich in ihr Arbeitszimmer zurück. Das Notebook wird hochgefahren. Das Klacken der Tastatur, schnell, hämmernd, die reinste Buchstabenjagd. Audrey schreibt ihren Roman und sie hat es eilig.
Nachdem Noa sich damit abgefunden hat, dass der Riss in der Scheibe tatsächlich existiert und nicht von selbst wieder verschwinden wird, wenn sie es sich nur intensiv genug wünschte, holt sie Schaufel und Handfeger. Pancake soll sich keinen Splitter in die Samtpfoten treten. Er fixiert sie von seinem Lieblingsplatz auf dem Küchentresen aus und wirkt verstört. Vielleicht bildet sie sich das auch nur ein. Hoffentlich.
Beim Aufkehren der Scherben, umschwirrt von einer Stechmücke, kommen Noa die Tränen. Sie versucht, sie zu unterdrücken, doch dann denkt sie, dass es egal ist, und weint einfach drauflos. Der fiebrige Mond ihr stiller Zeuge. Es ist ein unbefriedigendes Weinen, das keine Erleichterung bringt, wie sie es gewohnt ist, was daran liegen muss, dass Weinen für Noa normalerweise den Abschluss von irgendetwas Unangenehmem darstellt. Nach ihrer Trennung hat sie geweint. Nach dem Tod der Großeltern. Nach ihrem bösen Sturz vom Fahrrad. Jetzt steht das Weinen am Anfang, das spürt sie. Von etwas durch und durch Schlechtem. Und was es auch sein mag, es hat mit Audreys neuem Buch zu tun.
Der erste Mord also. Lass mich noch etwas näher darauf eingehen: Jeden Dienstag, wenn die Rentnerin Annemarie S. nach dem gemeinsamen Bratkartoffelessen mit Tochter und Familie das Angebot ihres Schwiegersohns, sie zu fahren, ausschlug und sich statt dessen allein auf den Heimweg machte, setzte sie das wenige, was von ihrem langen Leben übrig war, leichtfertig aufs Spiel. Denn nicht nur die nächtlichen Straßen waren voller Gesindel, auch in den Bussen und in der Hochbahn lauerten junge Leute in amerikanischer Kleidung, die weiten Kapuzen tief in die Gesichter gezogen, und konnten es kaum erwarten, auf ihrem Kopf herumzuspringen. Nicht etwa, weil sie Geld benötigten und planten, sie auszurauben, sondern einfach so. Es bereitete ihnen Vergnügen, wie es einst ihren vier Brüdern Vergnügen bereitet hatte, die Fensterscheiben jüdischer Geschäfte zu zertrümmern. Aber das war eine andere Zeit gewesen. Sie wischte den Gedanken daran fort, wie jedes Mal.
Über die Zunahme der Gewaltverbrechen in öffentlichen Verkehrsmitteln hatte Annemarie S. einen Artikel in der Zeitung gelesen, es war auch im Fernsehen darüber berichtet worden, doch bei den schrecklichen Aufnahmen fest installierter Überwachungskameras hatte sie umschalten müssen. Womöglich war sie deshalb nicht wirklich entsetzt, als sie den Bus knapp verpasste. Sie würde zu Fuß gehen, es war ja nicht weit. Und sie würde Nebenstraßen meiden. Entlang der vierspurigen Bahrenfelder Chaussee, gut beleuchtet
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