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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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ihr ins Gesicht zu sehen, spricht Bände. »Wir haben uns zufällig getroffen. In der Schanze.«
    »Was hast du ihm erzählt, Tobi?«
    »Audrey, ich – »
    »Was du ihm erzählt hast, will ich wissen!«
    Tobias’ Blick wandert von Audrey zu Noa, und er schüttelt kaum merklich den Kopf, als wollte er sagen: Nicht vor deiner Schwester. Woraufhin Audrey sie tatsächlich in ihr Zimmer schickt.
    Noa kann nicht glauben, dass sie sich herumkommandieren lässt wie ein kleines Kind, aber ein Teil von ihr ist sogar froh, der unheilvollen Atmosphäre auf der Terrasse entrinnen zu können. Die Verschnaufpause, so viel ist sicher, wird nur von kurzer Dauer sein. Denn alles, was dort besprochen wird, hat längst begonnen, Einfluss auf ihr eigenes Leben zu nehmen und wird sich nicht so schnell in Wohlgefallen auflösen. Ob sie es nun zu hören bekommt oder nicht.
    Babys, die länger als sechs Monate sozial isoliert werden, erleiden irreversible psychische Störungen und sind als Erwachsene oft nicht in der Lage, Liebe zu empfinden oder auch nur Bindungen einzugehen. Soll heißen: Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen, ziehen Monster groß. Das sagt einem schon der gesunde Menschenver stand, aber die Forscher, von denen in Noas Schulbuch di e Rede ist, haben aufwendige Studien an Heimkindern gebraucht, um zu derselben Erkenntnis zu gelangen. Thema der laufenden Unterrichtseinheit in PGW sind die Grundlagen des Sozialverhaltens, Noa muss dazu ein Referat vorbereiten, sie ringt um Konzentration. Dass sie sich ausgerechnet mit dem Scheitern von Sozialisation auseinanderzusetzen hat, kommt ihr plötzlich wie ein Wink des Schicksals vor.
    Von Kindheit an, notiert Noa in ihrer Kladde, finden die seelischen Grundbedürfnisse im Rahmen von Kleingruppen, meistens Familien, Befriedigung: Anerkennung, Zusammengehörigkeitsgefühl, Lob – all das fördert die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit und der sozialen Kompetenz.
    Sie lässt den Füller sinken: Audrey war vierzehn, als ihre Eltern starben und ihre Familie – in Noas Tagträumen ein Hort der Geborgenheit – aufhörte zu existieren, sie selbst noch keine vier Jahre alt. Da ihre Großeltern mütterlicherseits sie damals zwar ohne Murren aufnahmen, mit der Erziehung eines Teenagers und eines Kleinkindes jedoch allein aufgrund ihres Alters reichlich überfordert waren, schufen sie und Audrey sich ihre eigene Welt, oder, wie es die Sozialwissenschaftler sagen würden, sie entwickelten ihre eigenen Wertvorstellungen, Gewohnheiten und Normen, obgleich sie dafür eigentlich beide noch viel zu jung waren. Den Lehren ihres Schulbuchs zufolge müssten sie beide ziemlich einen an der Waffel haben. Sozialisierungsbedingt. Noa findet sich eigentlich ziemlich normal, doch was heißt das schon?
    Was ihr nicht aus dem Sinn geht: Audreys Reaktion auf das zufällige Aufeinandertreffen von Frank und Tobias. Eigentlich nichts Besonderes, aber Audrey hatte panische Angst, der Lektor könnte irgendetwas gegen ihren Willen ausgeplaudert haben. Aber was? Was hat ihre Schwester Tobias anvertraut, wovon weder Noa noch Frank, immerhin ein enger Vertrauter, wissen sollen?
    Erneut melden sich die Autoren ihrer Schullektüre unaufgefordert zu Wort: Ein gewisses Maß an Heimlichkeit und Anonymität sei eine Grundvoraussetzung für einwandfreies Sozialverhalten, liest Noa. Na toll, soll sie sich einfach raushalten und tatenlos zusehen, wie die Karriere ihrer Schwester den Bach runtergeht, weil sie sich in ein Projekt verrennt, dass möglicherweise nicht nur ein finanzielles Risiko darstellt, sondern auch gefährlich ist?
    Das wird sie ganz sicher nicht tun. Da ihre Konzentration zu wünschen übrig lässt, beschließt Noa, das Referat genau wie ihre anderen Hausaufgaben um einen weiteren Tag zu verschieben. Sie steht auf und trottet zurück auf die Terrasse, die inzwischen von Kater Pancake okkupiert ist, Audrey und Tobias haben das Apartment verlassen.
    Noa stellt sich ans Geländer und lässt ihren Blick den Dalmannkai entlangwandern. Richtig geraten – sie entdeckt die Schwester samt Lektor und Agent im Straßencafé, was insofern ein gutes Zeichen ist, als sie wenigstens noch miteinander sprechen. Allerdings scheinen die Zeichen weiterhin auf Sturm zu stehen, Audreys Körpersprache nach zu urteilen.
    Als sie merkt, dass Audrey sie ebenfalls fixiert, zieht Noa sich schleunigst auf einen der Lounge-Sessel zurück. Pancake springt auf ihren Schoß, und sie krault ihm den Bauch, bis er zu schnurren

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