Falsche Nähe
kommen sie kein Stück voran. Oder doch? Immerhin hat er gesagt, er mag sie. Von wegen schüchtern. Was für ein Spinner. Und sie? Noa holt tief Luft. Mag. Ihn. Auch.
Täglich beim Frühstück, gelegentlich auch beim Abendbrot müht Noa sich mit Arne ab. Schon die Teilnahme an den gemeinsamen Mahlzeiten kostet sie Überwindung, aber sie zwingt sich sogar, nicht ins innere Exil abzudriften, sondern an der Unterhaltung teilzunehmen und hört über weite Strecken zu, wenn er zu einer seiner langwierigen Erklärungen ansetzt. Meistens geht es um politische Themen wie die Eurokrise, den Atomausstieg oder den Nahen Osten. Arne, Abonnent diverser Tageszeitungen, versorgt sie mit Hintergrundinformationen, um die sie zwar nie gebeten hat, die sich jedoch im Unterricht als nützlich erweisen, wie Noa zugeben muss.
Was sie stört: Arnes rein analytischer Blick auf das Weltgeschehen. Während Audrey und sie die Schicksale der Menschen beschäftigen, sie sich in die Notlage einer verarmten griechischen Familie ebenso leicht hineinversetzen können wie in die Ängste der Anrainer eines von Störfällen heimgesuchten Kernkraftwerks, spricht er gern von strukturellen Problemen und langfristigen Lösungen, als wäre er Politiker. Er wirkt völlig kalt. Zum einen könnte das damit zu tun haben, dass er ein Mann ist, zum anderen dürfte auch sein Alter eine Rolle spielen. Angeblich steigt ja der Pragmatismus mit den Jahren, während der Idealismus automatisch abnimmt, aber muss man deshalb gleich jegliche Fähigkeit zur Empathie verlieren? Wie kann ihre Schwester darüber hinwegsehen?
Noas Anstrengungen, sich an Arne zu gewöhnen, werden indes nicht bloß durch seine Herzlosigkeit in Sachen Sozialpolitik erschwert. Viel schlimmer: Manchmal hat sie das Gefühl, dass er sie verstohlen beobachtet, wenn sie sich in einem Raum aufhalten. Er taxiert ihre Figur. Einmal lässt er sogar eine Bemerkung über ihre Haut fallen, indem er sie ganz scheinheilig mit Audreys vergleicht.
»Die süßen Schwestern Pfirsichhaut«, sagt er.
Noa möchte sich am liebsten schütteln.
Morgens im Bad kommt es vor, dass Noas Zahnbürste bereits nass ist, wenn sie sie aus dem Becher nimmt. Als hätte Arne sie bereits benutzt. Allein der Gedanke.
Soll sie Audrey davon erzählen? Nein. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge würde sie sie bloß auslachen, das ist so gut wie sicher. Irgendwann erwähnt sie es doch und erntet tatsächlich nichts als Spott.
Denn Audrey, so scheint es, hat an ihrem Freund nicht das Geringste auszusetzen. Mit einer neuen, sanfteren Stimme nennt sie ihn Barney, Held oder Troll, liebesduselige Neckereien, deren Ursprung nur ihnen beiden geläufig ist. Sie verstehen einander mit einem einzigen Blick. Zwischen ihnen würde sich jeder Dritte verloren fühlen.
Noa ist kein Fan von Kosenamen. Dass sie sich von Audrey als »Süße« titulieren lässt, ist eine Ausnahme. Indessen kommt es kaum noch vor. Überhaupt reden sie nicht mehr viel miteinander, jedenfalls nicht zu zweit. Gelegenheiten gäbe es durchaus: Wie erwartet bricht Arne jeden Morgen um halb neun auf, um mit der Hochbahn in sein Büro in der Schanze zu fahren, abends ist er selten vor sieben zurück, was bedeutet, nachmittags haben sie das Apartment für sich allein.
Dennoch führen sie tagelang kein richtiges Gespräch, spontane Kinobesuche oder Streifzüge durch die neuen Läden im Viertel gehören ebenso der Vergangenheit an wie ihre zeitverschwenderischen Daddelrunden am Computer oder der Spielkonsole. Früher gingen dafür mindestens einmal pro Woche etliche Stunden drauf, anschließend hatten sie beide ein schlechtes Gewissen. Es wäre ein Leichtes, wenigstens damit weiterzumachen, man müsste einander ja nicht mal in die Augen sehen und wäre wenigstens zusammen. Aber keine von ihnen er greift die Initiative. Ihre Schwesternbeziehung schrumpft, bis nur noch organisatorischer Kleinkram übrig bleibt: »Hast du die Katze schon gefüttert?« »Lässt du morgen Nachmittag die Putzfrau rein?« »Schreibst du mir eine Entschuldigung für die erste Stunde gestern?« »Wir brauchen frisches Brot.«
Noa wünschte, Audrey würde sie mehr an ihrem Glück teilhaben lassen, gibt sich jedoch größtenteils selbst die Schuld daran, dass es nicht so ist: Sie hätte sich in Sachen Arne bedeckt halten sollen, und sei es nur aus strategischen Gründen. Jetzt steht sie auf verlorenem Posten.
Genau wie Moritz ihr geraten hat, beschließt Noa, die Umbrüche als Teil einer schmerzhaften,
Weitere Kostenlose Bücher