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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Sie will nicht schon wieder so verletzt werden wie im Sommer mit Jannis.
    Noa ist auf der Hut, doch wochentags nach der Schule schlendert sie durch das Quartier und hält Ausschau nach Moritz, was sie sich allerdings nur ungern eingesteht. Die Chancen, ihn zu entdecken, stehen schlecht, denn wie die Zugvögel haben sich auch die meisten Skater in ihre Winterquartiere verabschiedet, irgendwelche stillgelegten Fabriken oder Lagerhallen drüben im Hafen, runtergekommene Einkaufszentren, wo es wärmer ist und einem die Böen nicht so gnadenlos in die Wangen schneiden.
    Die Hafencity im Herbst ist ein stürmischer Ort, die Straßen zwischen den hohen Häusern perfekte Windkanäle, die glatten Fassaden ohne jeden Widerstand. Die Touristen lungern nicht mehr auf den Bänken und Freitreppen herum, sondern kommen bloß auf Stippvisite vorbei, haken die Sehenswürdigkeiten ab wie bei einer Rallye. Sie tragen Windjacken und schnüren die Kapuzen fest. Das schiere, kostspielige Pflaster, das überall auf den Promenaden verlegt wurde, glänzt vor Nässe.
    Am Störtebeker-Denkmal – die Bronzefigur zeigt den Piraten entkleidet und gefesselt unmittelbar vor seiner Hinrichtung – kommen Noa Audreys »apokalyptische Reiter« wieder in den Sinn. Das Wissen um die Existenz dieses Textfragments bleibt verstörend, und das nicht nur wegen der enthaupteten Blumenverkäuferin. Ihre eigene Bereitschaft, die Schwester des Mordes zu verdächtigen, kommt Noa inzwischen unwirklich vor. Wenn man bedenkt, was aus Audrey geworden ist: ein Lamm. Es gab Zeiten, da wollte sie sich einen Stacheldraht rund um den Hals tätowieren lassen. Nun tippt sie wahrscheinlich bald Liebesgeschichten. Und Noa wird anfangen, sie zu lesen, allein schon, um ihr wenigstens ein klein wenig näher zu sein.
    Mit der Zeit wird es ihr gleichgültig, ob sie Moritz begegnet, sie geht um der Fortbewegung Willen, Hauptsache nicht zur Ruhe kommen, und bloß nicht ins Grübeln geraten, das Schlendern wird zum Marschieren. Bis durch den alten Elbtunnel und wieder zurück, die Abgeschiedenheit der weiß gekachelten Röhre tief unter dem Fluss bringt die Erkenntnis: Überall fühlt sie sich zurzeit besser aufgehoben als daheim.
    Sie hat das Gefühl, wie eine Feder durch ihre Tage zu treiben. Als sie am Grasbrook wie durch ein Wunder tatsächlich eine findet, eine Möwenfeder, grau mit einer schwarzen Querzeichnung an der Spitze, betrachtet sie es als Zeichen. Ein Symbol ihrer Verletzlichkeit, das sie mit nach Hause nimmt, als es dunkel ist.
    Moritz’ Seesack: Er hat Namen und Anschrift mit Edding auf den Stoff geschrieben, Grothe heißt er, also hat er den Familiennamen seines Vaters behalten. Zögerlich streicht Noa mit dem Finger über die Schrift. Sie fühlt ihren Puls in der Halsschlagader. Als hätte ihre Aufregung ihn angelockt, leistet Pancake ihr Gesellschaft. Komm schon, trau dich, spornt sein wissbegieriger Katerblick sie an.
    »Also gut.«
    Das Gepäckstück ist schwer, viel zu schwer für sie, das Zugband mit einem doppelten Knoten versehen. Kaum dass sie ihn gelöst hat, kippt der Sack um, und ein Teil des Inhalts purzelt von selbst hinaus. Schwarze Socken, ein Hoody von Hollister, eine Jeans, beides gleichermaßen in Schwarz. Ein Fotobuch, Privataufnahmen zum Bildband gebunden, wie man es im Internet bestellen kann. Noa hebt es auf und wirft einen Blick hinein. Moritz als Kind. Wildpark Schwarze Berge. Die Elbe, das Meer. Die Frau mit den krausen, dunklen Haaren muss seine Mutter sein, wie erwartet, eine sehr schöne Frau. Ein Gruppenbild vor einem Gasthaus, festlicher Anlass, Noa vermutet: goldene Hochzeit. Bei dem vornehm gekleideten Paar in der Mitte könnte es sich um Arnes Großeltern handeln, Moritz’ Urgroßeltern, Familienähnlichkeit ist vorhanden. Ringsum weitere Angehörige, Moritz’ Onkels und Tanten, Cousins und Cousinen, er selbst vielleicht sechs oder sieben mit Wuschelkopf und schief geknöpftem Hemd. Eine Großfamilie wie Noa sie nie gekannt hat. Wie sie – auch Moritz – längst nicht mehr sein eigen nennen kann, nach der Scheidung seiner Eltern. Wenn ihm das alles inzwischen so egal ist, wie er ihr weismachen will, warum schleppt er dann dieses Buch mit sich herum?
    Bevor ihr schlechtes Gewissen überhandnehmen kann – Noa weiß, sie sollte das hier nicht tun, im umgekehrten Fall wäre sie stinkwütend –, lässt sie ihre Hand in den Seesack gleiten. Ihre Finger schließen sich um einen kalten, harten Gegenstand, der sich im Licht

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