Falsche Nähe
Kram, was hier gerade abgeht, stimmt’s?«
Die Frage rast an Noa vorbei wie neulich sein Skateboard, ebenso lahm erfolgt auch ihre Reaktion, ein kaum merkliches Schulterzucken.
Ihre Augen brennen, sie reibt sie mit Daumen und Zeigefinger, bis das Gefühl nachlässt, und fragt sich, ob noch zu sehen ist, dass sie am Vorabend geheult hat. Vor Moritz wäre ihr das peinlich. So großzügig wie er die neue Beziehung seines Vaters und alle damit für ihn verbundenen Unannehmlichkeiten toleriert, würde es ein schlechtes Licht auf sie werfen. Sie kommt sich kindisch und unreif vor. Doch obwohl sie in der Lage ist, sich zu hinterfragen und insgeheim Selbstkritik zu üben, ist sie machtlos gegen ihre negativen Gefühle.
»Wieso glaubst du das?«, fragt sie schließlich.
Moritz hat ihr den Rücken zugedreht und genießt die Aussicht. »Das ist nicht schwer zu erraten. Du hast ein Problem mit meinem Vater.«
»Na ja, er ist nicht gerade mein Lieblingsmensch.«
Er lacht schallend, ein tiefes, ehrliches Lachen, in dem Arnes Stimme durchtönt. »Meiner auch nicht, um ehrlich zu sein, aber ich schätze, das gehört dazu, wenn man älter wird. Aber so übel, wie du vielleicht denkst, ist er auch wieder nicht. Man kann es mit ihm aushalten, echt. Er gibt sich Mühe. Früher war er schlimmer.«
»Inwiefern schlimm?«
»Verspannter halt. Wegen der Schule und allem.«
»Wieso haben deine Eltern sich eigentlich getrennt?«
Er schwingt sich auf Audreys Schreibtisch und lässt die Beine baumeln. »Keine Ahnung, das Übliche, schätze ich. Sie sind einfach nicht mehr klargekommen. Vielleicht haben sie sich auch gegenseitig betrogen, das haben sie mir natürlich nicht erzählt. Ich war ja erst in der vierten Klasse. Jedenfalls gab es ein paar Monate lang ständig Geschrei und Tränen und Türenschlagen, bis irgendwann Schluss war und er auszog. Mitten in der Nacht.«
»Das war bestimmt übel.«
»Ist lange her. Er hat sein Leben, ich habe meins. Weißt du, du solltest es genauso halten, ist meine Meinung. Im Frühjahr machst du Abi, und wenn du dann keine Lust mehr auf die beiden hast, haust du ab zum Studieren. Die paar Monate kriegst du doch locker rum. Übrigens, ich habe vor, meinen Vater zu überreden, mir die Wohnung in Eppendorf für eine WG zu überlassen, falls das mit ihm und Audrey gut läuft. Bist du dabei?«
»Du willst, dass ich in deine WG ziehe?« Wieso muss er sie ständig überrumpeln?
»Ja, warum nicht? Ich mag dich. Die Wohnung hat vier Zimmer. Altbau, Parkett, Stuck. U-Bahn um die Ecke. Was alle wollen. Und wir werden meinen Vater natürlich bei der Miete brutal übers Ohr hauen. Das wird perfekt. Wenn du willst, setze ich dich auf die Liste.«
»Verzichte«, sagt Noa rasch, denn irgendetwas an dem Begriff Liste stört sie. Zu gönnerhaft.
Moritz macht ein beleidigtes Gesicht. Mit der demonstrativ vorgeschobenen Unterlippe sieht er viel jünger aus, als er ist, maximal zwölf. Seine dicken roten Locken umrahmen ungebändigt sein Jungengesicht, kringeln sich bis auf die Schultern, eine richtige Krause. Wie kann er diese vollen Haare haben, bei dem Vater? Ob die auch alle futsch sein werden, wenn er vierzig wird? Noa kann es sich nicht vorstellen. Womöglich ist seine Mutter ja eine richtige Schönheit.
Moritz bemerkt ihre Blicke und erwidert sie. Einen Moment lang sehen sie sich voller Neugier in die Augen. Seine sind blau mit ein bisschen grau und bernsteinfarbenen Schlieren. Eine ziemlich aufregende Kombination, was Noa erneut daran erinnert, dass ihre eigenen Augen zwar auch ein Pluspunkt, weil grün, aber vermutlich immer noch gerötet sind. Verlegen schaut sie weg.
»Dann eben nicht«, sagt er und meint damit offenkundig nicht nur die WG . »Ich hab genug Freunde.«
»Du bist ja ganz schön von dir selbst überzeugt.«
»Findest du?«
»Finde ich.«
»Schade, dass du nichts kapierst.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, dass ich total anders bin, als du glaubst. Eigentlich bin ich schüchtern, ich versuche bloß, Eindruck bei dir zu schinden, und das schon seit neulich im Wildpark. Aber du bist so sehr mit meinem alten Herrn und deiner Schwester beschäftigt, du merkst es nicht einmal.«
Alles ist wie bei ihrer ersten Begegnung am Kai. Das Skateboard rast die Rollstuhlrampe runter. Sie erwischt es nicht. Moritz fällt hin, schlägt sich das Knie auf. Beleidigt sie. Fordert sie heraus. Irgendwie scheint sich zwischen ihnen dieselbe Szene ständig zu wiederholen – mit oder ohne Skateboard. So
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