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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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komische Vorstellung: die ganze Eile vergebens.
    Ankunft. Der Bus hält kaum mehr als zehn Sekunden, um Noa und eine ältere Dame mit blasser Haut und hennaroten Haaren neben der Postfiliale auszuspucken. Ein Schwall rußiger Abgase nebelt sie ein.
    Zaghaft setzt Noa einen Fuß vor den anderen, als könnte es glatt sein. Die Bäckerei auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es damals schon, da ist sie ganz sicher. Das Fachwerk über dem Schaufenster.
    Sie betritt das Geschäft, kauft sich eine Müslistange und einen Kakao und stellt sich damit an einen von drei Bistrotischen. Vom Tresen aus behält die Verkäuferin sie im Auge. Nebenan liest ein Handwerker die Bild-Zeitung und verspeist ein Brötchen mit paniertem Schnitzel. Bei jedem Bissen tropft Remoulade auf die Seiten, was den Mann nicht zu stören scheint. Noa wendet sich ab. Der Kakao ist viel zu süß, aber die Müslistange schmeckt ihr gut.
    »Keine Schule heute?«, fragt die Verkäuferin, als sie den Becher zurückbringt. Offensichtlich hält sie Noa für eine Schwänzerin, daher die misstrauischen Blicke. Als wäre sie der gesetzlichen Schulpflicht nicht längst entwachsen. Ein Beweis dafür, dass sie jünger aussieht, als sie ist, insbesondere, wenn sie ungeschminkt das Haus verlässt – oder wenn ihr, wie jetzt, die Unsicherheit ins Gesicht geschrieben steht. Auch aufdonnern und lässig gucken hilft indes nicht immer: Im Kino oder in Clubs muss sie ständig ihren Ausweis vorzeigen.
    »Ich bin nicht von hier«, sagt sie.
    »Nicht? Ich hätte schwören können.«
    Erst nachdem sie schon längst wieder auf der Dorfstraße unterwegs ist, fällt Noa ein, dass sie die Frau hätte ausfragen sollen. Anfängerfehler.
    Wie sich zeigt, hilft alles, was sie um sich herum sieht, Noas Gedächtnis auf die Sprünge. Sie erinnert sich an das Kriegerdenkmal und natürlich an die wuchtige Kirche mit der schlanken Turmspitze: St. Martin. Sie wurde irgendwann im Mittelalter aus Feldsteinen errichtet, das ist das Besondere an ihr. An einer Wand gibt es – oder gab es – eine Sonnenuhr aus ausgeblichenem Holz, die sie als Kind fasziniert hat. Noa muss sich zwingen, nicht nachzuschauen, ob sie noch dort hängt.
    Ohne Mühe findet sie den Weg zum Einfamilienhaus der Großeltern. Alles vertraut: zinnoberroter Backstein, Satteldach, die Garage, die aussieht wie eine Miniaturausgabe des Hauptgebäudes, die gemauerten Zaunpfeiler, ebenfalls aus Backstein, dazwischen die hölzerne Eingangspforte. Hinter der Garage standen früher Kaninchenställe. Ihr Großvater züchtete die Tiere, um seine Rente aufzubessern. Er verkaufte sie an Restaurants in der Gegend, hin und wieder auch an Familien mit Kindern oder andere Züchter. Dass die meisten ihrer flauschigen Spielkameraden im Kochtopf landeten, hat Noa erst Jahre später begriffen. Anscheinend war man darauf bedacht, sie in jeder Hinsicht so gut es ging zu schonen. Das ahnungslose Nesthäkchen.
    Noa betrachtet das Haus eingehender, nimmt Umgestaltungen wahr: Die Fenster waren früher weiß, die neuen Besitzer haben sie durch blau gestrichene Sprossenfenster ersetzt und blaue Fensterläden montiert. Das Dach wurde ebenfalls erneuert und glänzt wie von Lack überzogen, was die Spuren von Verwitterung auf dem Mauerwerk überdeutlich hervortreten lässt. Auf dem Rasen steht ein Klettergerüst, das früher nicht da war. Die Apfelbäume wurden gefällt. Die Hecke ist noch da. In den Zweigen zwitschern Sperlinge.
    Gut sechs Jahre hat sie hier gewohnt, in einem Zimmer im Obergeschoss. Ihr Bett stand unter einer Dachschräge. Es war schmal, zu schmal für zwei, dennoch haben Audrey und sie oft zusammen darin übernachtet. Es war Audrey, die nachts Noas Nähe brauchte, aber sie tat so, als müsste Noa getröstet werden, als hätte sie schlecht geträumt oder Angst vor der Dunkelheit. Bereitwillig spielte Noa das Spiel mit.
    Was für Möbel sonst standen noch darin? Ein Schreibtisch vermutlich. Vielleicht ein Schrank? Wie waren die Wände gestaltet? Noa hat es vergessen. Sie könnte klingeln und darum bitten, sich den Raum ansehen zu dürfen. Auf dem gepflasterten Hof parkt ein silberner Ford Fiesta, also ist jemand zu Hause. Doch was soll das bringen? Drinnen dürften die Veränderungen weitreichender sein.
    Wichtiger wäre es, mit Nachbarn ins Gespräch zu kommen, und zwar mit Leuten, die früher auch schon hier gewohnt haben. Noa setzt ihre größten Hoffnungen in die alte Dame von schräg gegenüber, denn ihre Großmutter und sie

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