Falsche Nähe
Computer. Das Passwort wurde geändert, das neue ist beim besten Willen nicht zu knacken. Nirgendwo eine Notiz, die es verrät. Auch sonst geben die Dokumente und Aufzeichnungen ihrer Schwester kaum Neuigkeiten preis, von den aktuellen Verkaufszahlen abgesehen. Alles im grünen Bereich, nein, mehr als das: alles prima. Ein leichter Einbruch bei den Hardcovern, der schwachen Konjunktur geschuldet, wie Noa vermutet. Honorarabrechnungen. Verträge mit der Agentur, mit ihrem Verlag, mit der Filmfirma. Handschriftliches blöckeweise: Romanrecherchen. In ihrer spitzen, krakeligen Handschrift, der gezackten Linie eines EKGs nicht unähnlich, hat Audrey lauter unappetitliche Details rund ums Morden vermerkt, von Verwesungszuständen bis hin zur Erläuterung der Frage, wie lange und schmerzhaft der Erstickungstod sich gestaltet, wenn der Kopf in einer Plastiktüte feststeckt. Noa ist es ein Rätsel, wie Audrey sich freiwillig mit solchen Widerwärtigkeiten umgeben kann. Ausgeschlossen, dass es sie kalt lässt. Unter den Journalisten, die sie regelmäßig portraitieren, gilt sie als Melancholikerin. Es heißt, sie würde die Täter in ihren Büchern genauso lieben wie die Opfer. Ihr vielzitierter Kommentar dazu: »Weil sie eine Einheit bilden. Ob sie wollen oder nicht. Jeder von ihnen könnte oder konnte an einem anderen Punkt seiner Biografie genauso gut auf der anderen Seite stehen. Was sie trennt, sind meistens nur Nuancen.«
Wie stand es doch gleich im Romanentwurf?
Kein Licht ohne Schatten.
Ohne zu wollen, bewegt Noa den Satz in ihrem Kopf hin und her. Ist das nicht eine zu pessimistische Sichtweise? Wie verhält es sich mit einem leeren, hell erleuchteten Raum, in dem es nichts gibt, das Schatten werfen könnte? Bezogen auf Audreys Mörder: Wenn ein Baby zur Welt kommt, eine neue, unbescholtene Seele, könnte man nicht zumindest dann von einem Licht ohne Schatten reden?
Nicht dass solche Überlegungen jetzt eine Rolle spielen würden. Noa hat sich ablenken lassen und wendet sich, nun nicht mehr ganz so wild entschlossen, wieder Audreys Unterlagen zu. Abgesehen von ihrem Abiturzeugnis und den Sterbeurkunden ihrer Großeltern stammt alles aus ihrer Hamburger Zeit. Als hätte es die Jahre davor nie gegeben.
Frustriert gelangt sie schlussendlich an das Zeitungsarchiv: In dicken Leitz-Ordnern sammelt Audrey Ausschnitte aus Tageszeitungen und Wochenmagazinen, von denen sie annimmt, sie könnten für einen ihrer zukünftigen Romane eine Inspirationsquelle darstellen. Wie zu erwarten, sind die Inhalte der archivierten Artikel unerquicklich: Noa blättert sich durch Mordserien, Kindesentführungen und mehr oder weniger drastische Schilderungen häuslicher Gewalt. Da mittlerweile das Internet eine nie versiegende Quelle zu sämtlichen Themenbereichen darstellt, hat Audrey die Sammlung länger nicht ergänzt, die jüngsten Beiträge sind mehr als zwei Jahre alt. Noa will soeben den letzten Ordner zurück ins Regal hieven, als ein einzelner Schnipsel herausrutscht und mit einer gewissen Eleganz zu Boden segelt. Noa hebt ihn auf. Sie liest:
Wieder Suizid in der U-Haft:
Tatverdächtiger tot in Zelle aufgefunden
Aurich (dpa/ndr) Der geständige Tatverdächtige, der im Oktober vergangenen Jahres seinen Arbeitgeber und dessen Ehefrau auf Sande erschlagen haben soll, ist tot. Der mehrfach wegen Gewaltdelikten vorbestrafte Mann sei am Mittwoch erhängt in seiner Zelle in der Untersuchungshaft aufgefunden worden, teilte die Staatsanwaltschaft Aurich mit. Es werde von Selbstmord ausgegangen. Motiv für das Tötungsdelikt war offenbar die vorangegangene Kündigung des 37-jährigen. Es war bereits der dritte Suizid in der Untersuchungshaftanstalt Aurich innerhalb eines Jahres.
Eine stinknormale Polizeimeldung, unspektakulär verglichen mit den meisten anderen Fällen in Audreys Archiv – und doch: Etwas in Noa scheint reißen zu wollen, als sie die Zeilen ein zweites Mal überfliegt.
Audrey, sonst sehr gewissenhaft, hat weder notiert, aus welcher Zeitung der Ausschnitt stammt, noch, wann sie veröffentlicht wurde. Das Papier ist vergilbt. Anstatt in Stichworten zu notieren, warum sie den Inhalt für relevant hält, hat die Schwester den Rand neben dem Text mit Kreuzen versehen. Bei einem wurde der Kugelschreiber so fest aufgedrückt, dass das Papier riss.
Noa schleppt den Ordner zurück zum Schreibtisch, schlägt ihn erneut auf, um weitere Artikel zu derselben Geschichte ausfindig zu machen, doch sie entdeckt lediglich die leere
Weitere Kostenlose Bücher