Falsche Nähe
Klassenlehrerin, hält sich zufällig im Gang vor dem Lehrerzimmer auf, umringt von Schülerinnen, denen sie irgendetwas erläutert. Als sie Noa entdeckt, sieht sie so erfreut aus, als müsste sie sich zusammenreißen, ihr nicht direkt um den Hals zu fallen.
»Noa, bist du es wirklich? Das ist aber eine schöne Überraschung«, ruft sie. »Dass du dich mal hier blicken lässt. Hallo. Wie geht es dir?«
»Gut.« Noa wird rot. Lügen liegt ihr nicht.
Die Mädchen, keine zehn Jahre alt, starren sie neugierig an. Frau Matern stellt sie vor: »Ihr süßen Mäuse, das ist Noa, eine ehemalige Schülerin von mir, die jetzt in Hamburg lebt. Ihre Schwester ist eine berühmte Schriftstellerin.«
Aha, denkt Noa. Daher weht der Wind. Frau Matern ist ein Audrey-Winter-Fan. Noa wird vornehmlich in ihrer Stellvertreterrolle willkommen geheißen. Egal, solange man sie nicht erneut so eiskalt abserviert wie Jennifers Mutter, geht das in Ordnung.
»Schreibst du auch Bücher?«, erkundigt sich das vorlauteste der Mädchen. Die anderen kichern.
»Nein. Ich gehe noch zur Schule. Ich mache bald Abitur.«
»Ich will auch das Abitur machen«, ruft die Vorlaute.
»Und das wirst du auch schaffen«, sagt Frau Matern.
Sie hat sich kaum verändert. Eine groß gewachsene Frau mit üppigen Rundungen. Ihr Haar, das sie früher zu einem lockeren Knoten zusammensteckte, ist mittlerweile kurz geschnitten und blond gesträhnt, und sie trägt eine wenig vorteilhafte Brille. Aber ihr Blick strahlt immer noch die gleiche Lebendigkeit und Wärme aus. Bei ihr in der Klasse wurden alle Kinder für voll genommen, still oder laut, gescheit oder begriffsstutzig, sie zeigte jedem einen Weg auf, das Beste aus sich herauszuholen – und sie duldete keine Ungerechtigkeiten.
Eine Welle der Zuneigung durchflutet Noa und wirft die Frage auf, warum sie nie das Bedürfnis hatte, mit jemandem aus ihrem alten Leben den Kontakt zu halten, zum Beispiel mit Frau Matern. Wieso unterwarf sie ihre Gefühle immer demselben Schema – sie und Audrey gegen den Rest der Welt? Sie kennt die Antwort: Weil ihre Schwester es so gewollt hat. Alle Brücken hinter sich abzubrechen, war Audreys erklärtes Ziel, als sie nach Hamburg zogen, eine Bedingung, die nicht zur Diskussion stand. Als ob Noa jemals mit ihr diskutiert hätte! Audrey nicht wie ein schwanzwedelndes Hündchen überallhin zu folgen, ist etwas, das sie erst lernen muss. Sie spürt, leicht wird das nicht.
Der Gong zum Ende der Pause erklingt.
»Oh, wie schade«, sagt Frau Matern.
»Finde ich auch«, sagt Noa. Sie haben ja kaum drei Worte miteinander gewechselt.
»Warst du schon auf dem Friedhof?«
Irritiert schüttelt Noa den Kopf. »Nein, wieso?«
»Am Grab deiner Großeltern, meine ich. Wenn du schon mal hier bist.«
Darauf weiß Noa nichts zu sagen. Sie wäre von sich aus nie auf die Idee gekommen. Aber es hat eine gewisse Logik. Angehörige tun so etwas.
Frau Matern hilft nach: »Mach ihnen doch die Freude.«
Obwohl sie beinahe schon entschlossen ist, zuckt Noa mit den Schultern.
Allmählich leert sich der Flur. Das Stimmengewirr wird leiser.
»Und nachmittags um vier kommst du auf einen Tee bei uns vorbei. Was hältst du davon?«
»Okay.«
»Okay. Schützenstraße neun. Komm, lass dich mal drücken.«
Die Umarmung ist kurz und weich und erweist sich als Segen für Noas angeknackstes Selbstwertgefühl.
Auf dem Friedhof. Das Gelände ist zwar nicht so weitläufig wie befürchtet, kein Vergleich zur riesigen Parklandschaft des Ohlsdorfer Friedhofs mit ihren Skulpturen und den imposanten Mausoleen, aber da Noa keinen Schimmer hat, wo die Großeltern ihre letzte Ruhe gefunden haben, versetzt der Anblick der adretten Gräberreihen dem Empfinden, das Richtige zu tun, gleich wieder einen Dämpfer. Sie erachtet die Chancen, ihre Blümchen an der richtigen Stelle loszuwerden, als gering.
Bei der Baumschule nebenan hat Noa zwei weiße Rosen besorgt, eine für jedes Grab. Jetzt kommt ihr das kitschig vor. Sie weiß nicht mal mehr, ob ihre Großeltern Blumen mochten, aber sie wollte nicht mit leeren Händen auftauchen, weil es sich so gehört. Vor einem Jahr haben sie mit dem Deutschkurs das Grab der Schauspielerin und Theaterintendantin Ida Ehre besucht und hatten auf Geheiß ihres Lehrers ebenfalls Rosen dabei, die sie auf die schlichte Granitplatte legten. Während der restlichen Führung über das Gelände des Ehrenfriedhofs hörte sie iPod, darauf bedacht, dass ihr Haar die Ohrstöpsel verdeckte. Die
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