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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Prospekthülle, der er vermutlich entglitten ist. Anstatt ihn zurück an seinen Platz zu stecken, nimmt sie ihn an sich. Der Ordner verbleibt aufgeschlagen. Noa muss los.
    Die Bahnstrecke von Hamburg-Hauptbahnhof nach Cuxhaven wird von einem Privatunternehmen betrieben, der Zug ist ein Doppeldecker und heißt Metronom. Noa kommt der blau-gelbe Anstrich bekannt vor, die hässlichen Muster der Sitze. Wer denkt sich so was aus, fragt sie sich, froh um jede Banalität, die ihre Aufmerksamkeit erregt. Denn die anderen, die wirklich wichtigen Gedanken tun weh. Sie kann sich ihnen nur in kleinen Schritten stellen, sonst tickt sie aus.
    Damals, als sie und Audrey die Strecke in umgekehrter Richtung zurücklegten, hatte jede von ihnen zwei Koffer dabei, ihr ganzer Besitz. Weil das Gepäck zu schwer war, um es durch die Gänge zu schleppen, gaben sie sich mit den Behelfsplätzen im Eingangsbereich des Zugs zufrieden, Klappsitze, die mit einem Knall zurückschnellten, sobald man aufstand und vergaß, sie festzuhalten. Die strengen Blicke der anderen Fahrgäste daraufhin: Muss das sein. Mit neun Jahren war Noa ein Kind, das sich leicht einschüchtern ließ. Um nicht weiter aufzufallen, schaute sie die meiste Zeit nach draußen, obwohl wenig zu sehen war. Spätsommer, das Gras an den Rändern des Bahndamms stand hoch.
    Heute hat Noa nur ihren Rucksack mit dem Nötigsten zu tragen, Kulturtasche, Wäsche zum Wechseln, ihren Mac natürlich. Sie trottet ins Obergeschoss, fläzt sich ans Fenster. Ein Einzelplatz, gleich neben der Treppe, wo sie ihre Ruhe hat. Vor acht Jahren war der Zug überfüllt, heute bleiben die meisten Reihen leer. Kein Wunder, denn sie ist antizyklisch unterwegs: So früh am Tag fahren die Pendler stadteinwärts.
    Als der Zug die Elbbrücken passiert, das Wasser unter ihnen glatt und trübe wie abgestandener Tee, klingelt Noas Handy. Audrey. Sie drückt das Gespräch weg, schaltet das Telefon aus und gleich darauf wieder ein, um ihrer Schwester eine SMS zu schicken. Darin bittet sie Audrey, sie in der Schule zu entschuldigen. Es ginge ihr gut. Sie müsse mal raus. Das muss reichen. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten und fällt sogar noch knapper aus, geradezu schroff, sodass es Noa einen Stich versetzt:
    OK.
    Weiter nichts.
    »Okay«, brummt Noa. »Du mich auch.«
    Sie lehnt den Kopf an. Der Tag verspricht schön zu werden, wenigstens, was das Wetter betrifft. Auf dem Weg zum Bahnhof hat sie gefroren und bereut, sich gegen ihren Daunenmantel und für die marinefarbene Canvas-Jacke entschieden zu haben, doch jetzt, in der Wärme des gut geheizten Waggons, die ersten Sonnenstrahlen im Gesicht, könnte sie problemlos im T-Shirt dasitzen und fühlt sich beinahe, als würde sie eine Urlaubsreise antreten. Leider hält die Illusion nicht lange vor, zu hässlich die Vororte mit ihren Bausünden, zu groß das Chaos in ihrem Kopf, ihrem Leben. Baumärkte, Discounter, Fast-Food-Läden gleiten vorbei, Mietskasernen, die Dächer beladen mit Mobilfunkmasten, die sich scharf gegen den blauen Himmel abzeichnen. Noa ist bewusst, dass niemand die Bewohner gefragt hat, ob sie damit einverstanden sind, sich der Strahlung auszusetzen. Mit schlechtem Gewissen befingert sie ihr iPhone. Daddelt ein paar Runden. Das Spiel, das Tom, der Nachbar, ihr raufgeladen hat, gefällt ihr.
    Die Welt ist ungerecht, so ist das nun mal. Vor acht Jahren besaß Noa noch nicht mal ein eigenes Handy, sie hatten nicht mehr als die Leute in diesen schäbigen Wohnungen, abgesehen von Audreys Traum vom Schreiben und ihrem Talent, ihn wahr werden zu lassen. Sie haben viel Glück gehabt. Immer nach vorn geschaut, nie zurück.
    Wie kam es dazu? Gab es wirklich nie einen Anlass heimzukehren?
    In ihrem Notebook liest Noa die ersten drei Seiten von Audreys Romanentwurf erneut, genau wie sie es bereits vor einer guten Stunde, auf der Bettkante sitzend, in ihrem Zimmer getan hat. Inzwischen ist sie überzeugt, dass der Anfang entscheidend ist, wichtiger und ausgereifter als die Schilderung des Schwert-Mordes. Die Ich-Erzählerin, die als kleines Mädchen von der Schule zurückkommt und ihre Eltern getötet vorfindet. Darum geht es. Ob diese Person, so wie sie da geschildert wird, tatsächlich existiert oder nicht, das ist die Eine-Million-Euro-Frage.
    Noa klappt den Laptop zu. Blickt nach draußen. Endlich haben sie Hamburg hinter sich gelassen, die Scheibe wirft die schemenhafte Spiegelung ihres Gesichts auf flaches Grünland. Satte Wiesen, aber kein

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