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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Vieh, das auf ihnen weidet.
    Sie versucht, zu sortieren: Der Tatverdächtige, der sich erhängt hat, die Kreuze auf dem vergilbten Zeitungspapier. Audreys Geheimnis. Der angefangene Roman.
    Noa kann nicht darauf zählen, dass am Ende alles einen Sinn ergeben wird.
    Irgendwo in dem Dorf, das sie vor so langer Zeit hinter sich ließen, muss jemand wohnen, der sich ihrer entsinnt. Damals war sie neun, hatte gerade die Grundschule abgeschlossen und konnte es kaum erwarten, in Hamburg aufs Gymnasium zu gehen. Hat sie die Schule gemocht? Sie glaubt schon. Auch wenn ihre eigenen Erinnerungen dürftig sind, verborgen hinter einem Schleier, als wäre sie einer Gehirnwäsche unterzogen worden – Noa ist bereit, sich die Informationen über die eigene Vergangenheit zu verschaffen, die ihre Schwester ihr verweigert.
    Von Stade aus geht es mit dem Bus weiter. Während sie an der Haltestelle wartet, kommt Wind auf, und hinter der Silhouette der Altstadt mit ihren Kirchtürmen formiert sich eine Regenfront. Noa knöpft die Jacke zu. Obwohl das Wetter für ihre Pläne unwichtig ist, wird ihr schwer ums Herz. Der Sonnenschein schien ihr Mut zuzusprechen, wohingegen die Wolken, grauschwarz wie ein Gebirgskamm aus Schiefer, sie beschwören, ein schlechtes Omen in ihnen zu sehen. Der Geruch kalter Feuchtigkeit.
    Wenigstens fällt kein Regen, noch nicht. Auch im Bus herrscht wenig Betrieb, sodass Noa die Mitreisenden im Vorbeigehen einzeln taxieren kann, eine Handvoll alte Leute, eine arg blondierte Mutter mit apfelbäckigem Kleinkind, lauter Fremde. Was hat sie erwartet? Sie setzt sich ganz nach hinten.
    An einer Kreuzung hat es gekracht und sie stehen im Stau. Blaulichtgeflimmer, bis ein Verkehrspolizist sie an der Unfallstelle vorbeilotst. Sie will nicht hinschauen, aber dann kann sie sich nicht beherrschen. Haufenweise Splitter. Zwei Kleinwagen, beide schwer beschädigt: beim ersten ist die Seite eingedrückt, beim anderen die Schnauze. Ein Rettungswagen parkt mit geöffneten Hecktüren auf dem Fußweg, doch die Trage ist unbenutzt. Die Sanitäter stehen zusammen mit weiteren Polizisten und zwei dürren, jungen Frauen am Rand. Das müssen die Fahrerinnen sein: blass, mit schockgefrorenen Mienen, äußerlich unversehrt und ungefähr in Noas Alter.
    Das ist nicht weiter verwunderlich. Noa könnte längst ihren Führerschein haben, in Hamburg ist das neuerdings ab siebzehn möglich, Audrey hat ihr nahegelegt, keine Zeit zu vergeuden, aber bisher hat Noa sich noch nicht mal bei der Fahrschule angemeldet. Bislang zog sie immer eine Verbindung zum Unfalltod ihrer Eltern: Logisch, dass sie skeptisch war.
    Die Schicksalsfahrt gemäß den Erzählungen ihrer Schwester: später Abend, eine regennasse Landstraße, schlechte Sicht, ein Hindernis, das wie aus dem Nichts auf der Fahrbahn auftauchte, wahrscheinlich Wild, ein Reh oder ein Wildschwein. In Noas Fantasie war es meistens ein Hirsch, der das Ausweichmanöver provozierte, ein edles, großes Tier mit einem prächtigen Geweih, das man um jeden Preis vor dem Aufprall bewahren möchte – ohne an die Gefahr für das eigene Leben zu denken. Als sie klein war, hat sie vor ihrem inneren Auge das Bild eines Einhorns entstehen lassen, weiß und kitschig wie bei Disney, was der Abwesenheit der Eltern vorübergehend einen mystischen Glanz verlieh. Wie Helden hatten sie sich geopfert, um ein Fabelwesen zu schützen. Als ihr Auto beinahe ungebremst gegen den Baum prallte, seien sie ins Freie geschleudert worden und sofort tot gewesen, hat Audrey behauptet. Es habe ausgesehen, als schliefen sie nur.
    Sie haben nicht leiden müssen. Audrey hat es geschworen. Vielleicht hat Noa deshalb nie so richtig daran geglaubt. Weil sie nie verstand, warum es einen Schwur brauchte, um der Behauptung Nachdruck zu verleihen.
    Kaum haben sie die letzten Ausläufer der Kreisstadt passiert, gibt der Fahrer ordentlich Gas, als wollte er um jeden Preis seinen Fahrplan wieder einholen. Der Bus schießt über die Straße, die zwar schnurgerade ist, aber voller Bodenwellen. In der hinteren Reihe wird Noa durch geschaukelt, die Federung ächzt. Ihr ist flau, sie hatte noch kein Frühstück. Ringsum nichts als Stoppelfelder und Wiesen. Nur auf einigen Äckern steht noch Mais, etliche Halme abgeknickt, die Blätter gelb und vertrocknet.
    Der Bus rast und schwankt und kommt doch nicht schnell voran, weil in jedem lausigen Kaff Haltestellen zu bedienen sind. Eins gleicht dem anderen, als ob sie im Kreis fahren würden. Eine

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