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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Anwesenheit des Todes machte ihr zu schaffen. Sie wollte es nicht an sich herankommen lassen.
    Wenn Noa sich nicht täuscht, war dieser Schulausflug ihr einziger Besuch auf einem Friedhof überhaupt. Ziemlich bizarr für das Kind einer Familie, in der es mehr Tote gibt als Lebende. Als ihre Eltern beerdigt wurden, war sie zu jung und wurde zu Hause gelassen, so hat man es für sie entschieden. Am Tag der Beerdigung ihrer Großmutter stand in der Schule eine wichtige Klassenarbeit an, und Audrey beschloss, ohne sie hinzufahren. Der Großvater starb nur wenig später. Wieder fuhr Audrey allein. Weil sie es so wollte. Wieder wegen der Schule. Aber sie hätten doch trotzdem irgendwann einmal gemeinsam ans Grab gehen können, später. Ein Sonntagsauflug.
    Wieso kennt Noa den Ort nicht, an dem ihre Eltern begraben wurden? Und wieso fragt sie sich das erst jetzt? Fest steht: Ohne den Anstoß von Frau Matern wären Überlegungen dieser Art nicht entstanden.
    Noa riecht an den Rosen. Sie duften nicht. Hochgezüchtete Importware, vermutlich voller Pestizide. Was soll’s, ihre Großeltern werden sich nicht mehr daran stören. Falls sie sie findet.
    Während Noa mit gesenktem Kopf wie auf einem Trauermarsch die Reihen abschreitet und die Namen auf den Grabsteinen entziffert, wird sie plötzlich sehr wütend. Es ist eine Wut, die zu den schiefergrauen Wolkenmassen am Himmel passt, eine Wut wie der schneidend kalte Wind, der ihre Augen tränen lässt, und sie denkt: sie ist jung und voller Leben und hätte an so einem Tag etwas Besseres verdient.
    Vielleicht wollte Audrey ihr genau dieses Gefühl ersparen, sie beschützen. Ein Liebesdienst. Gut gemeint, Wirkung verfehlt. Der Tod existiert – ob es ihr passt oder nicht. Und er hat bereits mehr Einfluss auf ihr Leben genommen, als bei jungen Leuten in ihrem Alter üblich. Das ist Pech. Aber sie muss sich den Folgen endlich stellen.
    Noa sucht lange. Ein älterer Herr mit verwitterten Zügen, der einen grauen Pudel an der Leine führt, weiß schließlich Rat. Er kannte zwar ihre Großeltern nicht, ist jedoch darüber informiert, wo in welchen Jahren neue Gräber angelegt wurden und verweist sie auf einen parkartigen Bereich mit altem Baumbestand. Unweit einer gewaltigen Buche ist Noa am Ziel.
    Eleonora Winter, geborene zum Felde.
    Gustav Winter.
    Geburtsdaten, Sterbedaten. Goldene Schrift auf poliertem Granit, ungefähr in der Farbe des Hauses, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht haben. Die betenden Hände ebenfalls in Gold. Aber keine persönliche Bemerkung. Kein »geliebt, beweint und unvergessen«, was ja auch gelogen wäre.
    Den eigenen Familiennamen auf einem Grabstein zu lesen, erfüllt Noa nicht wie erwartet mit Traurigkeit, eher mit Ruhe. Es hat irgendwie mit der Buche zu tun. Als wäre der Baum ihr wohlgesonnen.
    »Hallo, ich bin’s«, flüstert sie und sieht sich verstohlen um, bevor sie die Rosen ablegt. In der feuchten Luft schimmern die restlichen Blätter im weitverzweigten Geäst des Baums wie glattes, braunes Leder. »Tut mir leid, dass ich nicht eher gekommen bin.«
    Frau Matern wohnt unter Reet in einem charmanten, alten Bauernhaus. Die Ziegel und die Balken des Fachwerks wurden aufpoliert, alles wie neu, obwohl über dem Eingang die Jahreszahl 1814 prangt, darunter ein Segensspruch auf Plattdeutsch: Sto fast, kiek wiet un rög di. In der Einfahrt sitzt eine pechschwarze Katze und leckt sich die Pfoten, daneben liegt ein Roller achtlos hingeworfen auf dem Kopfsteinpflaster. Noa prägt sich das Bild in allen Einzelheiten ein: So sieht ein gemütliches Zuhause aus. Das Heim einer Familie.
    Es riecht nach nassem Laub und Fallobst und ein wenig wie in der Hafencity, auch wenn Noa nicht gleich versteht, warum. Das wird ihr erst klar, nachdem Frau Matern ihr geöffnet und sie in eine geräumige Wohndiele geführt hat, von wo aus ein bodentiefes Fenster den Blick auf einen niedrigen Deich freigibt. Dahinter, weiß Noa noch aus Kindertagen, fließt die Oste. Das Wasser des Flusses riecht so ähnlich wie die Elbe: nach Gezeiten. Der würzige Atem des Meeres.
    Frau Matern, ihrem Strahlen nach zu urteilen wiederum hocherfreut, Noa zu sehen, bringt ein Handtuch und fordert sie auf, sich auszuziehen. Noa ist durchnässt. Auf dem Weg vom Friedhof hierher hat es anfangs nur genieselt, dann öffnete der Himmel sämtliche Schleusen, und es schüttete so sehr, dass die Kanalisation den Wassermassen nicht gewachsen war. Schlecht für Noas Chucks. Sie wünschte, sie

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