Falsche Nähe
saßen im Sommer oft zusammen auf der Hollywoodschaukel und plauderten. Sie streckt bereits die Hand nach der Pforte aus, als sie bemerkt, dass auch dieses Haus ein neues, glänzendes Dach erhalten hat. In der Krone der großen Eiche im hinteren Teil des Grundstücks haben Kinder ein Baumhaus gebaut, an einem dicken Ast hängt eine Schaukel. Keine Frage: Auch hier haben die Besitzer gewechselt.
Noa klappert das Viertel ab. Zwei Häuser stehen leer und sollen verkauft werden – Maklerbüros haben die Galgen mit ihren Firmenschildern gut sichtbar in den Vorgärten in Stellung gebracht –, andere Gebäude kommen Noa vor, als hätte sie sie nie zuvor gesehen, folglich hat sie zu den Bewohnern seinerzeit keinerlei Bezug gehabt.
Beim Bungalow einer ehemaligen Klassenkameradin regt sich etwas in Noa. Ihr Kopf füllt sich mit Bildern: Das Mädchen hieß Jennifer, sie stand auf Brausepulver und Kaugummis mit Apfelgeschmack, konnte gut stricken und noch besser Fußball spielen. Bei schlechtem Wetter hockten sie manchmal mit zwei weiteren Schulfreundinnen in ihrem geräumigen Zimmer auf dem Fußboden, weil sie einen eigenen Fernseher hatte sowie eine ganze Herde von Barbie-Pferden mit gelockten, weißblonden Mähnen, die sie kämmten und einflochten und wieder kämmten. Acht Jahre ist das her. Womöglich stehen die Spielsachen noch an ihrem Platz oder sie wurden auf den Dachboden verfrachtet. Jedenfalls gibt es keinen vernünftigen Grund, warum die Familie nicht mehr hier leben sollte. Einen Versuch ist es wert.
»Hallo, ich bin Noa«, sagt sie, als sie in der Frau, die ihr öffnet, tatsächlich Jennifers Mutter wiederzuerkennen glaubt. Eine stämmige Person ohne jeden Charme.
»Ist Jennifer da? Wir waren zusammen in der Grundschule.« Noa verausgabt sich beinahe an einem Luxus-Lächeln nach Arne-Art.
Jennifers Mutter lächelt nicht. Ihr Gesicht wirkt eher gequält, als würde Noa eine Sammelbüchse schwenken oder eine Broschüre der Zeugen Jehovas.
»Noa Winter?«, fragt sie. »Bist du das?«
»Genau.«
»Jennifer ist nicht zu Hause. Die macht doch jetzt ihre Lehre in Stade.«
»Ach so«, sagt Noa, steckt die Hände in die Jackentaschen und verlagert ihr Gewicht auf die Fußballen, federt aus lauter Verlegenheit ein paar Mal auf und ab. »Das ist ja toll. Wann kommt sie denn?«
»Spät.«
»Kann ich vielleicht hier auf sie warten? Ich würde mich nämlich auch gern ein bisschen mit Ihnen unterhalten.«
Jennifers Mutter weicht zurück. »Mit mir? Und worüber, wenn ich fragen darf?«
»Über mich. Wie soll ich sagen? Ich bin hier, um etwas über mich zu erfahren. Um meine Erinnerungen aufzufrischen und so. Die sind leider reichlich eingerostet.«
»Ich glaube, Noa, das ist keine so gute Idee«, erwidert Jennifers Mutter. »Ich muss dann auch rein. Ich hab Kartoffeln auf dem Herd.«
»Äh, könnten Sie mir vielleicht noch schnell Jennifers Handynummer geben?«
Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: »Jennifer hat kein Handy.«
Noa findet: äußerst unglaubwürdig für ein Mädchen, das schon in der ersten Klasse einen eigenen Fernseher und einen Computer im Zimmer stehen hatte.
»So ein Quatsch«, entfährt es ihr, worauf Jennifers Mutter kommentarlos die Tür zuschlägt.
Noa schießt das Blut in die Wangen. Ungläubig starrt sie auf die Haustür. Schwarz lackiertes Holz, goldener Knauf. Ihre Gedanken kommen zum Stillstand, zwanzig, dreißig Sekunden lang steht sie bloß da und federt, dann springt der Motor in ihrem Kopf stotternd wieder an. Sie sieht an sich herunter, sie ist weder schmutzig, noch sonst irgendwie derangiert. Sie hat nett nach Jennifer gefragt, war nahezu übertrieben höflich, zumindest am Anfang. Was ist in Jennifers Mutter gefahren, sie derartig schlecht zu behandeln? Knallt ihr die Tür vor der Nase zu. So etwas ist Noa noch nie passiert. Je länger sie darüber nachdenkt, desto rätselhafter erscheint ihr das gesamte Verhalten der Frau. Wieso hält sie es für eine schlechte Idee, wenn Noa etwas über sich in Erfahrung bringen will? Ist das nicht ein völlig normaler Wunsch für einen Teenager in ihrem Alter? Erst recht für ein Waisenkind – was für ein schreckliches Wort. Am liebsten würde Noa ein zweites Mal auf die Klingel drücken. Doch dazu fehlt ihr der Mut.
An ihrem alten Schulzentrum – der Fußweg dorthin ein Automatismus – hat Noa von Anfang an mehr Glück. Große Pause. Gleich zwei Lehrer grüßen sie freundlich. Frau Matern, ihre ehemalige
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